Wer einen Hund hat, dürfte die Situation kennen. Eigentlich würde man den Spaziergang jetzt wirklich gerne fortsetzen. Weil es kalt und ungemütlich ist. Weil man auch noch etwas anderes vorhat. Oder weil dieses Fleckchen Rasen neben dem Supermarkt für menschliche Augen ausgesprochen unspektakulär und langweilig wirkt. Doch die vierbeinige Begleitung schaut einen an, als sei man nicht ganz bei Trost: Jetzt schon aufbrechen? Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein! Es gibt hier doch noch so viel Spannendes zu erschnüffeln!
In solchen Situationen zeigt sich sehr deutlich, wie unterschiedlich Menschen und ihre sprichwörtlichen besten Freunde ihre Umgebung wahrnehmen. „Hunde leben in einer Welt der Gerüche“, erklärt Juliane Bräuer, die am Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena die Forschungsgruppe Hundestudien leitet. Sie und ihr Team wollen besser verstehen, wie die Tiere ihren hervorragenden Geruchssinn einsetzen und wie er mit ihren geistigen Fähigkeiten zusammenhängt. „Darüber weiß man bisher nur sehr wenig“, sagt die Forscherin. Erst allmählich gelingt es der Wissenschaft, etwas tiefer in diese geheimnisvolle Welt vorzudringen.
Klar ist, dass Hunde eine deutlich bessere Ausstattung für das Wahrnehmen von Gerüchen besitzen als der Mensch. So finden sich in den Nasenhöhlen eines Schäferhundes etwa 150 Quadratzentimeter Riechschleimhaut mit rund 250 Millionen Riechzellen. Dackel bringen es immerhin auf die Hälfte davon. Dagegen müssen sich Menschen mit bescheidenen zehn Quadratzentimetern Schleimhaut begnügen, in denen 30 Millionen Riechzellen auf Duftreize warten.
Auch die Bereiche im Gehirn, in denen die von den Riechzellen aufgenommenen Informationen verarbeitet werden, unterscheiden sich deutlich. Während Menschen nur einen kleinen Teil ihres Denkorgans für solche Aufgaben reserviert haben, ist bei Hunden ein Achtel des gesamten Gehirns nur für das Riechen zuständig. Das alles führt dazu, dass Hunde je nach Duftstoff zehntausend bis hunderttausend Mal so geringe Konzentrationen wahrnehmen können wie Menschen.
Kein Wunder also, dass sich die Tiere oft am liebsten auf ihre Nase verlassen. Sie erkennen am Geruch, ob ihr Gegenüber zur eigenen oder zu einer fremden Art gehört, welches Geschlecht es hat, ob es jung oder alt ist, krank oder gesund. Sie können sogar unterscheiden, wie nah ein Artgenosse mit ihnen verwandt ist. Und sie wissen offenbar auch sehr genau, wie sie selbst riechen.
Erste Indizien dafür hat ein eher ungewöhnliches Experiment geliefert. Entlang eines Radweges hat Marc Bekoff von der University of Colorado in den USA mit Hundeurin getränkten Schnee von seinem Ursprungsort an andere Stellen verfrachtet. Dann hat er beobachtet, an welchem der gelben Klumpen ein Rüde namens Jethro am längsten schnupperte. Mit seinem eigenen Urin verbrachte der Kandidat von Anfang an am wenigsten Zeit. Und sein Interesse ließ im Laufe des Versuchs noch weiter nach, was bei den Hinterlassenschaften anderer Artgenossen nicht der Fall war. Demnach könnten auch Hunde zum exklusiven Kreis von Arten gehören, die wissen, wer sie selbst sind.
Oft ist es allerdings gar nicht so einfach, die ungewöhnlichen Talente der vierbeinigen Spürnasen wissenschaftlich greifbar zu machen. Gute Tests dafür zu entwickeln, erfordert häufig einige Tüftelei. „Das liegt daran, dass wir Menschen so schlecht im Riechen sind“, sagt Juliane Bräuer. „Wir können uns gar nicht richtig vorstellen, wie ein Hund die Welt erlebt.“
Allein mit der Fülle an Eindrücken wäre ein Mensch wahrscheinlich komplett überfordert. Denn während physikalische Sinnesorgane wie Augen und Ohren eher Momentaufnahmen liefern, bleiben chemische Botschaften für eine gewisse Zeit erhalten. Wenn ein Hund einen Raum betritt, kann er also nicht nur erschnuppern, wie dieser aktuell eingerichtet ist, wer sich darin aufhält und ob die Nachbarn gerade kochen. Er erfährt auch, wie die Situation vor ein paar Stunden gewesen ist. Oder gestern. Oder letzte Woche. Das kann schon verwirrend werden. Doch irgendwie schaffen es die Tiere offenbar, aus dem Wust an Düften die für sie wichtigen Informationen herauszufiltern.
Dieses Talent nutzt die Menschheit seit Jahrtausenden. Die begabten Spürnasen waren seit jeher äußerst nützliche Gefährten, die beim Aufstöbern von Jagdbeute halfen oder Haus und Hof bewachten. Doch dabei ist es nicht geblieben. Inzwischen sind vierbeinige Profis nicht nur regelmäßig bei Polizei und Zoll im Einsatz, sondern auch bei Rettungsdiensten und in der Schädlingsbekämpfung. Manche suchen in Naturschutzprojekten nach bedrohten Tier- und Pflanzenarten, andere erschnuppern Krankheiten, finden Erze oder lokalisieren Lecks in Pipelines.
Allerdings eignet sich auch innerhalb derselben Rasse nicht jedes Tier gleich gut für einen solchen Job. Manche erweisen sich als ausgesprochen schnupperfaul. Juliane Bräuer kennt das von ihrer eigenen Border-Collie-Hündin. „Nana setzt ihre Nase nur relativ selten ein, obwohl sie es könnte“, berichtet die Forscherin. „Stattdessen schaut sie sich oft lieber um.“ Wie die Tiere die Entscheidung für oder gegen das Schnuppern treffen, untersuchen sie und ihr Team gerade.
Möglicherweise spielt dabei die Tatsache eine Rolle, dass Riechen für Hunde eine relativ anstrengende Sache ist. Die Nase einfach nur in die Gegend zu halten, reicht nämlich nicht. Um Gerüche wirklich gut wahrnehmen zu können, müssen die Tiere aktiv schnüffeln. Denn ohne die dabei entstehenden Turbulenzen kommen nur etwa zwei Prozent der in der Luft schwebenden Duftstoffe auch tatsächlich bei den Riechzellen an. Auch wenn Hunde hecheln, geht das auf Kosten ihres Riechvermögens. Denn dabei strömt die meiste Luft durchs Maul statt durch die Nase.
Ob die vierbeinigen Helfer das Gesuchte finden oder nicht, hängt allerdings nicht nur von ihrer Schnupperwilligkeit und Motivation ab. Auch Umweltfaktoren wie Temperatur und Feuchtigkeit, Luftdruck und Windverhältnisse sowie der gesundheitliche und psychische Zustand des Tieres spielen eine Rolle. Und nicht zuletzt hat auch der menschliche Begleiter die Hände im Spiel. Wie weit dessen Einfluss reicht, hat eine Forschungsgruppe um Lisa Lit von der University of California in einem Versuch mit 18 ausgebildeten Sprengstoff- und Drogenspürhunden getestet.
Die Tiere sollten entsprechende Proben suchen und zeigten auch in 85 Prozent der Durchgänge tatsächlich einen Fund an. Dabei war in keinem einzigen dieser Fälle überhaupt etwas auf dem Gelände versteckt – was die Hundeführer allerdings nicht wussten. Deren Erwartung hatte sich bei diesem Experiment offenbar auf die Tiere übertragen, sodass diese Fehlalarme produzierten.
Es gibt allerdings auch den umgekehrten Fall: Die Hunde riechen das Gesuchte zwar durchaus, zeigen aber nichts an. „Das kann daran liegen, dass sie nicht genau wissen, was man von ihnen will“, erklärt Juliane Bräuer. Ein Drogenspürhund hat im Training vielleicht gelernt, kleine Plastiktüten mit Kokain zu finden. Doch wenn er dann im Einsatz eine viel größere Menge in einer anderen Verpackung erschnuppert, ignoriert er die möglicherweise. „Für ihn ist das einfach nicht dieselbe Kategorie“, sagt Juliane Bräuer.
Vor ähnlichen Problemen stehen auch Rettungshunde. In ihrer Ausbildung üben diese zwar immer wieder, Menschen zu finden. Nur handelt es sich dabei um gesunde und unversehrte Personen – und die riechen für eine feine Spürnase eben deutlich anders als Bewusstlose und Verletzte, die in einem Erdbebengebiet verschüttet sind. „Man muss den Tieren also erst einmal klarmachen, was sie überhaupt suchen sollen“, betont die Expertin.
Gerade dafür wäre es gut, mehr über die Geruchswelt der Vierbeiner zu wissen. Dann ließe sich das bisherige Training für die Sonderfahnder auf vier Pfoten vielleicht noch verbessern. Doch bisher ist nicht einmal klar, wie das Aufnehmen und Verfolgen einer Fährte überhaupt funktioniert. Was genau nehmen die Tiere beispielsweise wahr, wenn sie der Spur eines ganz bestimmten Menschen folgen? Niemand weiß das so genau.
Trotz der vielen ungeklärten Fragen gelingt es aber auch immer wieder, neue Einblicke in die Geruchswelt der Hunde zu gewinnen. Forscherinnen um Philippa Johnson von der Cornell University in den USA haben das zum Beispiel mithilfe der Magnetresonanztomografie geschafft. Diese Methode lieferte fein aufgelöste Bilder, auf denen intensive Verbindungen zwischen dem Riechkolben der Tiere und anderen wichtigen Bereichen ihres Gehirns zu erkennen sind. Offenbar ist der Geruchssinn bei Hunden stark mit verschiedenen geistigen Prozessen verknüpft.
So verbinden die Datenhighways das Riechsystem mit Regionen, die mit dem Entstehen von Erinnerungen und Emotionen zu tun haben. Das ist vielleicht noch nicht sonderlich überraschend. Schließlich können Gerüche auch beim Menschen sehr effizient im Gedächtnis gespeichert werden. Ein bestimmter Duft aus der Kindheit weckt daher manchmal jahrzehntealte und sehr emotionale Erinnerungen. Bei Hunden mit ihrer so viel feineren Nase könnten solche Effekte noch stärker sein.
Deutlich verblüffender aber ist ein anderes Ergebnis aus dieser Studie. Eine weitere Daten-Schnellstraße führt nämlich vom Riechsystem direkt zu den Arealen, die fürs Sehen zuständig sind. So eine Verbindung ist bisher bei keinem anderen Tier bekannt. Und für Menschen ist es nicht leicht, sich vorzustellen, was diese Verknüpfung für die Wahrnehmung der Welt bedeutet. Denken Hunde in Bildern aus Gerüchen? Ist das vielleicht auch der Grund dafür, dass sich blinde Hunde in ihrer Umgebung deutlich besser zurechtfinden als Menschen mit dem gleichen Problem?
„Zumindest scheinen Hunde eine klare Vorstellung davon zu haben, was sie am Ende einer Duftspur finden werden“, sagt Juliane Bräuer. Sie und ihr Team haben dafür schon eine ganze Reihe von Indizien gefunden. In einem Versuch haben sie zum Beispiel ein Spielzeug über den Boden gezogen. Die vierbeinigen Kandidaten sollten der Spur bis zu einem Versteck folgen und den dort gefundenen Gegenstand zurückbringen. Für einen Hund ist das keine sonderlich anspruchsvolle Aufgabe. Irritiert waren die Tiere allerdings, wenn sie am Ende statt auf das zur Spur passende Spielzeug auf ein anderes stießen.
Zu ähnlichen Ergebnissen führte auch ein weiteres Experiment mit zwei unterschiedlichen Bezugspersonen. Wenn Frauchen die Spur gelegt hatte, an deren Ende aber Herrchen wartete, waren die Tiere oft noch nicht zufrieden und suchten weiter. Für Juliane Bräuer ist das ein Indiz dafür, was im Kopf der Tiere vorgeht, wenn sie einer Fährte folgen. Den Ergebnissen zufolge ist das mehr als „Gute Spur, da muss ich hinterher!“ Sie denken wohl eher in die Richtung: „Hier ist Frauchen entlanggelaufen und hatte gute Laune.“
Auch im Wahrnehmen von menschlichen Emotionen sind Hunde nämlich echte Profis. Ob ihr Gegenüber gestresst ist, erschnüffeln sie möglicherweise anhand des Stresshormons Cortisol. Und auch die chemischen Unterschiede zwischen Angst und Glück kann ihre Nase problemlos dingfest machen. Das zeigt zum Beispiel ein Versuch an der Universität Neapel Federico II. Dort haben die Forscher Hunde mit Schweißproben aus den Achseln von glücklichen und ängstlichen Männern konfrontiert. Darauf reagierten die getesteten Labradore und Golden Retriever ganz unterschiedlich. Witterten sie gute Laune, zeigten sie mehr Interesse an fremden Menschen und suchten weniger Kontakt zu ihren Besitzern. Hing dagegen Angst in der Luft, beschleunigte sich ihr Herzschlag und sie zeigten mehr Stresssymptome. Die Tiere können menschliche Emotionen also nicht nur wahrnehmen, sondern passen auch ihre eigenen daran an – und das zum Teil schon als Welpen. Auf Angst zum Beispiel reagieren sie schon im Alter von wenigen Monaten.
Doch auch angenehme Gefühle sind offenbar ansteckend. Ein Streicheln oder ein anderer positiver Kontakt zwischen Hund und Halter senkt bei beiden Arten den Blutdruck. Zugleich steigen die Konzentrationen der auch als „Glückshormone“ bekannten Endorphine und des Bindungshormons Oxytocin an. Das kann an einem Mix von unterschiedlichen Reizen liegen. Doch die Nase spielt dabei wahrscheinlich zumindest mit.
Für Hunde, die eine gute Beziehung zu Herrchen oder Frauchen haben, scheint jedenfalls schon allein deren Geruch etwas Positives zu sein. Das zeigt ein Experiment in den USA, bei dem zwölf Hunde mit den Gerüchen unterschiedlicher Menschen und Artgenossen konfrontiert waren. Alle Proben aktivierten in ganz ähnlicher Weise den Riechkolben im Gehirn. Doch der sogenannte Nucleus caudatus, in dem ein Teil des Belohnungssystems liegt, reagierte deutlich stärker auf den Geruch einer vertrauten Person.
Ob sich im Kopf von Hundebesitzern Ähnliches abspielt, weiß bisher niemand so genau. Es spricht aber nichts dagegen. Schließlich haben Versuche gezeigt, dass diese den Duft ihres eigenen Haustieres durchaus von dem anderer Hunde unterscheiden können. Ganz so geruchsblind, wie man meinen könnte, sind Menschen also doch nicht.