Jeden Tag Breaking News: Die Welt, wie wir sie bei Jahreswechsel noch kannten, scheint sich gerade in einem äußerst dynamischen Wandel zu befinden. Kriegerische Spannungen, wirtschaftliche Unsicherheiten und technologische Abhängigkeiten – all diese Faktoren tragen dazu bei, dass wir eine tiefgreifende Disruption unserer Wertvorstellungen und Systeme erleben. Die Digitalisierung ist zunehmend ein geopolitisches Schlachtfeld, auf dem Macht und Kontrolle über Daten und Technologien ausgefochten werden. Mit seiner erratischen Außen- und Wirtschaftspolitik hat Donald Trump durch seine Zolldrohungen erneut Öl ins Feuer gegossen. Wie lieb ist uns Souveränität? Ein Szenario, in dem die USA ihre Tech-Dienste für Europa stoppen, mag radikal erscheinen, ist aber nicht ausgeschlossen. Europa wäre dadurch von großer digitaler Infrastruktur abgeschnitten, was die Wirtschaft und Kommunikation massiv beeinträchtigen würde. Der Datenexperte Stefan Werner hat mit genau diesem Gedankenexperiment auf LinkedIn kürzlich für Aufsehen gesorgt – und einen Nerv getroffen.
Ein fiktives Szenario? Völlig unrealistisch? Vielleicht. Aber nur knapp
Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit für die Macht der US-Politik über digitale Systeme gibt es reichlich: Am 18. Januar 2025, einen Tag vor Inkrafttreten eines Gesetzes, das TikTok verbieten würde, stellte die App ihre Dienste in den USA „freiwillig“ ein. Das Oberste Gericht bestätigte das Gesetz, das TikTok zwang, sich von ByteDance zu trennen. Diese Abschaltung wurde jedoch wenige Stunden später durch eine Exekutivanordnung von Präsident Trump rückgängig gemacht, TikTok kehrte kurze Zeit später am 19. Januar 2025 in die App-Stores zurück und ist noch immer in Verkaufsgesprächen. Dass es bei diesen Machtdemonstrationen nicht um lustige Videos für Jugendliche geht, sondern um Leben und Tod, zeigt ein weiterer Vorfall. Im März 2025 wurde die Einsatzfähigkeit der HIMARS-Raketensysteme der Ukraine durch eine Entscheidung der US-Regierung vorübergehend eingeschränkt, als die USA die Weitergabe von Echtzeit-Zielkoordinaten einstellten. Die Entscheidung war Teil einer „Pause und Überprüfung“ der Unterstützung, um die Bereitschaft der Ukraine zu Friedensgesprächen zu evaluieren.
Warum sollten amerikanische Tech-Größen ihre Dienste abschalten? Normalerweise hätten sie kein Interesse an einer Eskalation, da sie von unseren Daten profitieren. Es geht um Kontrolle. Während Donald Trump bei seiner Vereidigung einerseits 500 Milliarden US-Dollar für KI-Infrastrukturen an Sam Altman von OpenAI vergab, zeigt sich auch die Kehrseite: Trump forderte eine Beendigung von Diversity-, Equity- und Inclusion-Initiativen (DEI), was viele US-Tech-Unternehmen dazu brachte, ihre DEI-Programme einzustellen. Könnte die Situation also auch in unsere Richtung eskalieren? Ja, denn die Europäische Union diskutiert derzeit die Einführung einer Digitalsteuer, insbesondere als Reaktion auf die von Trump verhängten Sonderzölle. Die Verhandlungen sind nervös und dürften ähnlich unorthodox geführt werden, wie man es aus den Russland-Ukraine-Gesprächen kennt.
Die Neuordnung des Internets – Ein Drama in vier Akten
Ein also wahrscheinliches Szenario: Europa führt eine Digitalsteuer ein, im Gegenzug beschließt der US-Präsident, sämtliche US-Tech-Dienste schrittweise für europäische Nutzer zu blockieren, um Verhandlungen „mit guten Karten auf der Hand“ voranzutreiben.
Stufe 1 könnte die Sperrung sämtlicher Social-Media-Plattformen bedeuten. Die Blockade von Plattformen wie LinkedIn, Facebook, Instagram, WhatsApp oder YouTube hätte enorme Auswirkungen auf die Kommunikation, sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Bereich. Viele Menschen in Europa sind auf diese Plattformen angewiesen, um mit Freunden, Familie und Kollegen in Kontakt zu bleiben. Unternehmen, die Social-Media-Plattformen für ihre Werbung und Kundenansprache nutzen, wären ebenfalls betroffen. Dies alles wäre erstmal kein lebensbedrohlicher Eingriff, denn Ausweichmöglichkeiten, insbesondere im Bereich der Messengerdienste (Signal, Threema etc.), gäbe es einige. Trotzdem würden die Transferkosten der Endverbraucher für Ärger und politischen Druck sorgen. Das Geschrei der selbsternannten Influencer wäre groß. Der Warnschuss an die EU-Bürger würde sitzen.
Eine weitere Eskalationsstufe wäre der Verlust von Diensten für die Geschäftskommunikation. Insbesondere Tools wie Microsoft 365, Slack, Zoom oder andere cloudbasierte Plattformen, würden enormen Druck auf Unternehmen ausüben. Die Auswirkungen wären sowohl auf der operativen als auch auf der strategischen Ebene spürbar: Seit Corona haben wir uns in der Home-Office-Welt an die Vorzüge von Microsoft Teams für virtuelle Meetings oder das gemeinsame Arbeiten an Dokumenten in Echtzeit gewöhnt. Auf diese Produktivitätsgewinne lässt sich nur schwer verzichten. Entscheidungsprozesse würden verzögert, die Reaktion auf ohnehin volatile Märkte wird schwieriger. Mitarbeiter müssten wieder dauerhaft zurück ins Büro und auf „Laufwerk-Systemen“ arbeiten, Mitarbeiter wären extrem unzufrieden. Beim Wechsel zu alternativen Kommunikations- und Kollaborationstools könnten Sicherheitslücken auftreten. Diese Risiken würden nicht nur die IT-Abteilung belasten, sondern auch mögliche Datenschutzverletzungen nach sich ziehen. Die überbordende EU-Bürokratie wird hier zum strategischen Hemmschuh.
Die dritte Stufe der Eskalation hätte es in sich – Der Online-Handel am Boden
Spätestens jetzt dürfte die Sache von nationalem Interesse sein. Die Blockade von Zahlungsdiensten oder Betriebssystemen hätte tiefgreifende Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft. Zahlungsdienste wie PayPal, Apple Pay und Google Pay sind heute entscheidend für den internationalen Zahlungsverkehr. Eine Blockade würde den E-Commerce und Online-Handel in Europa massiv stören und alternative Zahlungsmethoden wie Banküberweisungen oder Kryptowährungen nötig machen, was den Zahlungsverkehr langsamer und teurer machen würde. Auch eine Sperrung von iOS und Android würde den Zugriff auf wichtige Dienste und Apps verhindern. Ohne Updates würden Sicherheitslücken entstehen und Unternehmen wären stark betroffen. Diese Eskalation könnte zu politischen Spannungen zwischen den USA und Europa führen, die Beziehungen weiter belasten und eine breitere Diskussion über die Macht von Tech-Giganten anstoßen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Letztlich könnten US-Verbraucher, Märkte und die Wall Street durch Proteste die Regierung unter Druck setzen, eine solche Entscheidung rückgängig zu machen.
Akt Nummer Vier – Die Neustrukturierung der digitalen Welt
Die vierte Eskalationsstufe dürfte international von vielen globalen Akteuren als „Akt einer hybriden kriegerischen Handlung“ verstanden werden. Jetzt würde kein Stein mehr auf dem anderen bleiben, das Internet würde sich für immer verändern. Denn jetzt geht es nicht mehr um Bediener-Software, sondern um handfeste Infrastruktur, die international bisher vertrags- und rechtssicher aufgestellt war und nun bewusst sabotiert würde. Beispiel Netzwerktechnologie und Steuerung von IT-Infrastruktur: Sollte es zu internationalen Konflikten kommen, könnte die US-Regierung Druck auf Unternehmen wie Cisco – ein global führendes Unternehmen im Bereich skalierbarer Netzwerklösungen – ausüben, um sicherzustellen, dass bestimmte Märkte oder Länder von Cisco-Technologien ausgeschlossen bleiben. Insbesondere gegnerische oder konkurrierende Nationen würden erstmal keine sicherheitsrelevanten Upgrades mehr bekommen und zur offenen Zielscheibe werden. Wenn die USA die EU gezielt vom Internetverkehr ausschließen wollten, hätten sie mehrere technische und rechtliche Hebel, allerdings wären die Konsequenzen enorm. Über Akteure wie die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) oder das Unternehmen Verisign könnten die USA Änderungen an der sog. Root-Zone-Datei erzwingen. ICANN verwaltet die Root-Zone des Domain Name Systems (DNS), also das zentrale „Telefonbuch“ des Internets. Zwar handelt ICANN offiziell als unabhängige Non-Profit-Organisation und funktioniert nach einem Multistakeholder-Modell, d.h. keine der Gruppen/Entscheider ist allein entscheidungsbefugt. Sie hat jedoch ihren Sitz in den USA und unterliegt damit US-amerikanischem Recht. Beispielsweise könnten sie europäische Top-Level-Domains (TLDs wie .de, .fr, .it) entfernen oder unauflösbar machen. Webseiten mit diesen Endungen könnten weltweit nicht mehr erreicht werden. Hinweise gibt es bereits: Im Rahmen von US-Sanktionen gegenüber dem Iran wurde mehrfach versucht, Dienste und Domains auf .ir einzuschränken, aber bisher nicht über ICANN. 2022 forderten ukrainische Vertreter ICANN auf, russische Domains (.ru) abzuschalten. Die Organisation lehnte dies mit Verweis auf politische Neutralität ab. Aber dieser Präzedenzfall würde die Welt erschüttern. Die USA könnten den Zugang zu wichtigen Internet-Backbone-Providern wie Lumen und Cogent blockieren oder rerouten, wodurch Verbindungen zwischen Europa und dem Rest der Welt verlangsamt oder unterbrochen würden. Zusätzlich könnten Schnittstellen, Softwaredienste (SaaS) und Lizenzen für europäische Unternehmen entzogen werden. US-basierte Zertifikatsaussteller könnten europäische Domains unsicher machen, indem sie Zertifikate (HTTPS) zurückziehen oder verweigern.
Expect the unexpected – Was können Unternehmen und Organisationen tun?
All diese Schritte wären extreme Maßnahmen mit gravierenden Nebenwirkungen, auch für die USA selbst. Sie würden einen irreparablen Vertrauensbruch gegenüber der internationalen Community bedeuten und könnten zu einer massiven Fragmentierung des Internets führen – Stichwort „Splinternet“. Aber haben wir nicht gelernt, dass Themen wie gemeinsame Werte oder Vertrauen einen Donald Trump nicht interessieren? Wie reagiert jemand seines Schlags, der kurz davor ist, aus der NATO auszutreten? Ende April hinterließ er in einem Interview im Magazin „The Atlantic“ das Zitat „I run the country and the world“. Anfang Mai lancierte er ein KI-generiertes Bild von sich als neuem Papst in vollem Ornament. So viel zum Thema Aufbau von Vertrauen. Europäische Unternehmen und Organisationen müssen proaktiv handeln, um ihre digitale Unabhängigkeit zu stärken. Wie könnte ein Plan aussehen?
1. Digitale Resilienz strategisch aufbauen
Eine Digitalstrategie, die geopolitische Risiken berücksichtigt, ist essenziell. Unternehmen müssen ihre Business-Continuity-Pläne so gestalten, dass sie IT-Ausfälle durch politische Entscheidungen oder internationale Spannungen mitdenken. Im Falle eines Angriffs auf die Webseite sollte z.B. eine sogenannte Darksite zur Verfügung stehen, die schnell aufgeschaltet wird, falls das Original überlastet ist.
2. Cloud-Abhängigkeiten reduzieren
Die Nutzung von Multi-Cloud- oder Hybrid-Cloud-Modellen, insbesondere mit europäischen Anbietern, kann zur Ausfallsicherheit beitragen. Unternehmen sollten zudem die kritischen Pfade durch US-Dienste identifizieren und bewerten, um ihre Abhängigkeit von diesen zu reduzieren und so für etwaige Ausfälle besser gewappnet zu sein. Es gibt eine Reihe guter europäischer Cloud-Alternativen.
3. Open Source ernst nehmen und europäische Anbieter fördern
Die Verwendung von quelloffenen Tools stärkt die digitale Souveränität. Diese bieten nicht nur mehr Kontrolle über die eingesetzten Technologien, sondern ermöglichen auch eine größere Flexibilität in der Anpassung an spezifische Anforderungen. Der Umstieg auf Open-Source-Software für Kommunikations- und Kollaborationsprozesse mag kurzfristig Schulungsaufwand verursachen, führt jedoch langfristig zu mehr Unabhängigkeit von proprietären Anbietern.
4. Verträge und Datenflüsse prüfen
Unternehmen sollten ihre bestehenden Verträge und Datenflüsse regelmäßig überprüfen. Wo liegen die Daten? Gibt es Exit-Klauseln? Wer haftet im Ernstfall? Eine umfassende juristische sowie technische Überprüfung des aktuellen Setups ist notwendig, um im Falle einer Blockade oder eines Ausfalls schnell reagieren zu können.
5. Technologisches Know-how sichern und Krisenszenarien simulieren
Die Abhängigkeit von „Managed Services“ kann ein Risiko darstellen, insbesondere wenn diese Dienste plötzlich nicht mehr verfügbar sind. Kompetente IT-Teams im Haus zu haben, wird zu einer Voraussetzung für die Wahrung der digitalen Unabhängigkeit. Krisenszenarien müssen regelmäßig durchgespielt werden: Microsoft 365 fällt aus. Welche Alternativen für Videokonferenzen, Dokumentenbearbeitung oder Tabellenkalkulation gibt es?
6. Branchenübergreifende Kooperationen nutzen
EU-Initiativen wie Gaia-X oder CISPE bieten Infrastruktur und Standards für digitale Souveränität und fördern den Austausch zwischen Unternehmen. Wer sich aktiv an solchen Kooperationen beteiligt, profitiert nicht nur technologisch, sondern auch politisch, und kann gemeinsam mit anderen die digitale Unabhängigkeit vorantreiben.
7. Cybersicherheit weiterdenken und Frühwarnsysteme etablieren
Politische, regulatorische und technologische Veränderungen kommen oft nicht plötzlich, sondern entwickeln sich schrittweise. Unternehmen sollten Systeme etablieren, die frühzeitig auf solche Entwicklungen hinweisen. Cybersicherheit ist ein integraler Bestandteil der digitalen Souveränität. Backup-Strategien, Verschlüsselungsprozesse und Zugangskontrollen müssen kontinuierlich verbessert werden. Das Szenario einer Blockade würde in Europa sicherlich zu Frustration und Widerstand führen. Viele Nutzer könnten sich über die politische Entscheidung, auf US-Technologien zu verzichten, empören, insbesondere wenn dies ohne Vorwarnung oder klare Alternativen geschieht. Menschen könnten im ersten Kommunikationsschock auf altmodischere Methoden wie E-Mails, SMS oder lokale soziale Netzwerke ausweichen.
Digitale Souveränität als Bürgerpflicht
Es ist wahrscheinlich, dass europäische Unternehmen und Verbraucher nach so einem Knall schnell und strukturiert nach Alternativen suchen würden. Beide wären jedoch in der Zwischenzeit in jeder Hinsicht stark betroffen: mit erheblichen Produktivitätsverlusten und Umstellungskosten. Digitale Souveränität wird zur Bürgerpflicht, alle müssen kreativ mit anpacken. Machen wir uns nichts vor. Es gilt das Gleiche wie bei der Rüstungspolitik: Digitale Souveränität ist kein Zukunftsthema mehr! Warnschüsse gab es nun genug. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen uns, dass wir nicht länger auf den guten Willen von internationalen Tech-Konzernen angewiesen sein können. Wer in der digitalen Welt von morgen erfolgreich sein will, muss die Kontrolle über die eigene Infrastruktur zurückgewinnen – und das ist kein „Nice-to-have“, sondern eine zwingende Voraussetzung für den langfristigen Erfolg. Vielleicht können wir eines Tages einen eigenen Unabhängigkeitstag feiern, den Digital Independence Day.