TECHNOLOGIE & ZUKUNFT

Künstliche Intelligenz – Desillusionierung oder Party?

Kaum ein Thema polarisiert so sehr wie Künstliche Intelligenz. Zwischen Hype und Realität zeigt sich: KI ist überall – aber nicht immer dort, wo sie wirklich nützt. Euphorie trifft auf Ernüchterung, und die große Frage bleibt: Stehen wir am Anfang einer Revolution – oder schon mitten im Reality-Check?
Autor: 
Thorsten Greiten
, Fotograf: 
Advertorial
Sie lesen:  
Künstliche Intelligenz – Desillusionierung oder Party?

KI zwischen Euphorie und Ernüchterung

Kaum ein Thema hat sich so rasant in den öffentlichen Diskurs katapultiert wie Künstliche Intelligenz (KI). Sie steckt in Chatbots, Textgeneratoren, Bild-Tools und Suchmaschinen, sogar in der Kaffeemaschine – und das in einem Tempo, das selbst den technikaffinsten Supernerd überrascht. Die Begeisterung ist riesig: Medien überschlagen sich mit Superlativen, Unternehmen schreiben „KI“ auf alles, was sich bewegt, und Investoren pumpen Milliarden in neue Modelle. Der sogenannte „ChatGPT-Moment“ markierte Ende 2022 den Augenblick, in dem Künstliche Intelligenz für ein breites Publikum erstmals intuitiv erlebbar und massentauglich wurde. Millionen Menschen testeten innerhalb weniger Wochen das Sprachmodell – und staunten, wie natürlich, flüssig und schnell es auf komplexe Fragen antwortete. Es war der Moment, in dem KI nicht länger wie ein abstraktes Buzzword wirkte, sondern wie ein Werkzeug, das plötzlich für alle verfügbar war. Innerhalb weniger Monate wuchs ChatGPT zur am schnellsten wachsenden Consumer-App der Geschichte, mit über 100 Millionen aktiven Nutzern bereits im Januar 2023¹.

Diese Entwicklung zeigt eindrucksvoll, wie rasant sich technologische Innovation heute verbreitet – und wie stark sich unser digitales Informationsverhalten verändert. Die Geschwindigkeit, mit der KI-Systeme wie ChatGPT Reichweite und Relevanz gewinnen, übertrifft selbst frühere Internetrevolutionen deutlich – und setzt neue Maßstäbe dafür, wie schnell neue Technologien gesellschaftlich und wirtschaftlich wirksam werden können. Und doch schleicht sich eine erste Form der Ernüchterung ein: KI ist da – aber nicht immer dort, wo man sie braucht. Im Alltag hakt es, viele Tools liefern bestenfalls mittelmäßige Ergebnisse, Vertrauen fehlt. Trotz Investitionen von 30 bis 40 Milliarden US-Dollar in generative KI erzielen 95 Prozent der Unternehmen laut Studie des Projekts MIT NANDA² keinen messbaren Geschäftswert aus ihren Projekten. Der Report zeigt, dass der größte Hemmschuh nicht Technologie, Regulierung oder Talent ist – sondern das Fehlen lernfähiger Systeme, die sich an bestehende Prozesse anpassen können. Zwischen großer Erzählung und echter Wirkung klafft eine Lücke. Die Frage ist also: Steuern wir gerade auf das Tal der Desillusionierung zu – oder sind wir schon mittendrin?

Der Hype-Zyklus: Wo stehen wir gerade?

Um die Entwicklung rund um Künstliche Intelligenz einzuordnen, lohnt sich ein Blick auf den bekannten Gartner Hype Cycle. Dieser beschreibt den typischen Verlauf technologischer Innovationen: Vom anfänglichen „technologischen Auslöser“ geht es steil hinauf zum „Gipfel der überzogenen Erwartungen“, gefolgt vom Absturz ins „Tal der Enttäuschungen“, bis sich die Technologie schließlich im „Plateau der Produktivität“ einpendelt. Viele KI-Technologien stehen aktuell zwischen Hype und Realität. Der schnelle Erfolg von Tools wie ChatGPT hat Erwartungen geschürt, doch in Unternehmen zeigt sich: Der Prototyp überzeugt, die Prozessintegration bleibt oft aus. Wie bei Blockchain oder dem Metaverse bedeutet dies, dass ohne klare Anwendungsfälle, stabile Infrastruktur und realistische Ziele der Fortschritt stecken bleibt. Der Chatbot spricht zwar flüssig, aber nicht zuverlässig; der Textgenerator liefert Inhalte, aber nicht unbedingt belastbare. Die Implementierung von KI-Tools scheitert oft an Schnittstellen, Prozessen oder Zuständigkeiten.

Viele Unternehmen befinden sich in der Phase der sogenannten Proof-of-Concept-Müdigkeit: Erste KI-Projekte wurden gestartet, Pilotanwendungen demonstrieren Potenzial – doch der Schritt in die Breite bleibt aus. Warum? Weil KI kein Plug-and-play-Wunderwerk ist. Sie braucht gepflegte Daten, klare Anwendungsziele, durchdachte Governance-Strukturen – und nicht zuletzt: Akzeptanz bei den Mitarbeitenden. Der sprachlich einfache Zugang zu KI verstärkt die Fallhöhe – was magisch wirkt, weckt überzogene Hoffnungen. Ob wir das „Tal der Desillusionierung“ schon durchlaufen oder noch vor uns haben, ist unklar – sicher ist nur: Die nächste Phase wird ruhiger, aber entscheidend für die nachhaltige Nutzung von KI.

Die Börsen glauben (noch) an die KI – warum?

Während viele Unternehmen noch mit der Umsetzung von KI ringen, setzt die Börse längst auf Wachstum. Aktien wie NVIDIA, Microsoft oder Palantir erreichen Rekordwerte – obwohl konkrete Umsätze in Industrie und freier Wirtschaft oft noch ausstehen. Auch hier lohnt sich eine Detailbetrachtung: Die Financial Times berichtete vor einigen Wochen darüber, dass die Umsätze der einzelnen Protagonisten vor allem untereinander – in Form einer riskanten Kreislaufwirtschaft – getätigt werden. Aber die Börse handelt Erwartungen – und die lauten: Wer in KI investiert, sichert sich die Grundlagen der Ökonomie von morgen. Besonders profitieren derzeit also Infrastruktur-Anbieter wie NVIDIA, das laut Schätzungen 2024 bereits bis zu 90 Prozent der globalen KI-Chips lieferte. Auch Cloud-Plattformen und Anbieter großer Sprachmodelle gelten als strategisch gesetzt.

KI verspricht vor allem eines: Effizienz. In Zeiten hoher Lohnkosten, Fachkräftemangel und globalem Wettbewerbsdruck ist das ein starkes Argument für Investoren. Ob im Kundenservice, in der Produktion oder bei der Content-Erstellung – überall wird gerechnet, wie KI-Prozesse verschlanken kann. Der Markt lebt auch vom Narrativ. Wer die überzeugendste Zukunftsgeschichte erzählt, zieht Kapital an. Doch wie lange hält die Erzählung? Und wann trennt sich die Spreu vom Weizen – zwischen Vision und belastbarer Wertschöpfung? Die Erwartungsparallelen zur Dotcom-Blase blitzen also immer wieder auf. Doch es gibt zentrale Unterschiede, die zeigen, warum der Optimismus an den Kapitalmärkten bislang auf deutlich stabilerer Basis steht.

1. Umsatz statt Fantasie

Während viele Dotcom-Startups nur Visionen verkauften – oft reichte schon eine Domain und ein Businessplan – verdienen heutige KI-Unternehmen wie NVIDIA3 oder Microsoft real Geld mit Produkten und Services. Der Markt basiert auf echtem Nutzen statt Hoffnung.

2. Infrastruktur statt Ideenblasen

Der aktuelle KI-Hype dreht sich vor allem um Basistechnologien – Chips, Rechenleistung, Modelle⁴. Anders als damals wird nicht auf „das nächste Amazon“ gewettet, sondern auf das Fundament, auf dem die KI-Welt läuft.

3. Sofortige Nutzung statt später

Adoption

1999 war das Internet für viele noch Neuland. ChatGPT & Co. sind wie oben beschrieben sofort und global nutzbar, was die Verbreitung rasant beschleunigt hat.

4. Reife Technik statt halbfertiger

Produkte

Viele Dotcom-Geschäftsmodelle scheiterten an langsamen Leitungen und fehlender Infrastruktur⁵. Heute funktionieren KI-Anwendungen schon in bestehender Cloud- und Softwareumgebung – von Copilot bis Firefly.

5. Produktivität statt Spielerei

Die Hoffnung auf Effizienz ist real: Studien von McKinsey & Co. erwarten durch KI bis zu 40 Prozent Produktivitätsgewinn in wissensbasierten Tätigkeiten⁶. Die Vision ist diesmal mehr als nur ein Buzzword.

Und jetzt? Drei Szenarien für die kommenden 24 Monate

Szenario 1: Der KI-Hype trägt

langfristig

In diesem Szenario gelingt es Unternehmen, KI sinnvoll und skalierbar in ihre Geschäftsprozesse zu integrieren. Produktivitätsgewinne materialisieren sich, neue Geschäftsmodelle entstehen, KI wird zur echten Schlüsseltechnologie. Die Kapitalmärkte reagieren rational – hohe Bewertungen werden durch reale Wertschöpfung gedeckt. Kurz: Der KI-Boom ist kein Hype, sondern der Auftakt einer neuen wirtschaftlichen, stabilen Ära.

Szenario 2: Die große Ernüchterung

Hier erleben wir das klassische Tal der Desillusionierung. Unternehmen merken, dass KI nicht alle Versprechen halten kann, insbesondere in Bezug auf Autonomie oder strategische Entscheidungsfähigkeit. Schlechte Datenqualität in alten Systemen oder pfadabhängige langjährige Mitarbeiter, die keine Lust auf Automatisierung haben, könnten zu großen Bremsern werden. Die Investitionsbereitschaft sinkt, Projekte werden gestoppt, die Technologie wird „normalisiert“. KI bleibt ein wichtiges Werkzeug – aber kein Gamechanger. Die Bewertungen an den Börsen sinken wieder auf ein gesundes Maß.

Szenario 3: Die spekulative Blase platzt.

Im schlimmsten Fall entpuppt sich der Boom als Blase: überbewertete Start-ups, unrealistische Versprechungen, fehlende Monetarisierung von gigantischen Investitionen in Rechenzentren oder eigene Atomkraftwerke. Wenn dann noch regulatorische Hürden oder gesellschaftlicher Widerstand hinzukommen, kippt die Stimmung. Börsenwerte brechen ein, Kapital wird abgezogen, der Sektor konsolidiert sich brutal – ähnlich wie nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2001. Der Innovationsschub bleibt, aber die Euphorie ist verpufft.

Zwischen Fortschritt und Spekulationsblase

Künstliche Intelligenz ist weder Magie noch Massenhypnose – aber sie ist ein mächtiger technologischer Wandel, der unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt massiv verändern wird. Ob wir dabei schon im „Tal der Desillusionierung“ angekommen sind oder erst darauf zusteuern, ist fast zweitrangig. Entscheidend ist: Die Erwartungen stiegen seit dem ChatGPT-Moment riesig – und der Realitätsabgleich beginnt jetzt. Die KI-Revolution hat keine Pause-Taste. Während viele Unternehmen noch an Pilotprojekten basteln oder mit Datenschutzfragen ringen, investieren andere längst in ganze KI-Ökosysteme. Und der Kapitalmarkt? Der glaubt – noch – an die große Story. Die Veröffentlichung der Zahlen der großen Spieler hat das in der letzten Oktoberwoche bewiesen. Die Party ging weiter. Die kommenden zwei bis drei Jahre werden zeigen, wer liefern kann – und wer nur mitgeschwommen ist. Die größte Gefahr ist nicht, dass KI überschätzt wird. Die größte Gefahr ist, dass wir aus Überschätzung in Enttäuschung kippen – und dann den Mut verlieren, weiter aktiv zu gestalten. Der Hype rund um KI ist nicht nur technologisch, sondern auch psychologisch aufgeladen – zwischen Faszination und Überforderung, zwischen Zukunftsvision und Kontrollverlust.

Die Geschwindigkeit des Wandels lässt wenig Raum für Einordnung. Denn eines ist sicher: Die Technologie wird nicht verschwinden. Aber wie sie eingesetzt wird, welche Werte sie transportiert und welche Macht sie erhält, liegt noch in unserer Hand. Wer jetzt investiert – nicht nur finanziell, sondern auch strategisch, organisatorisch und kulturell – sichert sich nicht nur einen Platz im Maschinenraum der Zukunft. Sondern auch die Fähigkeit, mit der nächsten Welle souverän umzugehen.

¹ Zum Vergleich: Während Google etwa elf Jahre benötigte, um auf ein jährliches Suchvolumen von rund 365 Milliarden Anfragen zu kommen (Stand: um 2009–2010), erreichte ChatGPT diese Größenordnung laut OpenAI in weniger als zwei Jahren nach dem Start im November 2022.

² https://www.artificialintelligence-news.com/wp-content/uploads/2025/08/ai_report_2025.pdf

³ https://investor.nvidia.com/news/press-release-details/2024/NVIDIA-Announces-Financial-Results-for-Fourth-Quarter-and-Fiscal-2024/

https://www.investopedia.com/4-key-takeaways-from-nvidia-q4-fy2024-earnings-call-8598375

https://observer.com/2025/06/mckinsey-study-business-ai-productivity/

https://www.mckinsey.com/~/media/mckinsey/business%20functions/mckinsey%20digital/our%20insights/the%20economic%20potential%20of%20generative%20ai%20the%20next%20productivity%20frontier/the-economic-potential-of-generative-ai-the-next-productivity-frontier.pdf