TECHNOLOGIE & ZUKUNFT

Die Falter-Fahnder

Seit 20 Jahren zählen Freiwillige bundesweit Schmetterlinge im Dienst der Wissenschaft. Zum Jubiläum des Projekts gibt es einige Erfolge zu feiern.
Autor: 
Kerstin Viering
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Die Falter-Fahnder

Als die Welt noch jung war, wollte der Schöpfer eines Tages etwas besonders Schönes erschaffen. Also sammelte er die prächtigsten Farben und steckte sie in einen Sack: das Blau des Himmels und das Grün der Bäume, das Gelb der Sonne und das Rot, Orange und Violett der Blumen. Und als er den Sack wieder öffnete, flatterten Hunderte von leuchtend bunten Gestalten heraus: Die Schmetterlinge hatten ihren ersten, spektakulären Auftritt. So erzählt es jedenfalls eine alte Legende aus Nordamerika.

Auch in vielen anderen Regionen rund um die Welt gehören Schmetterlinge mit ihrem anmutigen Flattern, ihren dekorativen Mustern und leuchtenden Farben zu den attraktivsten und populärsten Insekten überhaupt. Deutschland macht da keine Ausnahme. Doch inzwischen begnügen sich die Falter-Fans hierzulande nicht mehr nur mit bloßem Staunen und Bewundern. Seit zwanzig Jahren sind zwischen April und September bundesweit Hunderte von engagierten Bürgern unterwegs, um die Tiere zu beobachten, ihre Arten zu bestimmen und sie zu zählen. Woche für Woche gehen sie eine festgelegte Strecke von bis zu einem Kilometer Länge ab und notieren sämtliche tagaktiven Falter, die ihnen unterwegs begegnen.

Einer der Väter dieser 2004 geborenen Idee ist der Schmetterlingsforscher Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle. „In anderen Ländern gab es solche Projekte schon länger“, erinnert sich der Ökologe. Vor allem in Großbritannien hat das hobbymäßige Falterzählen eine lange Tradition, das „UK Butterfly Monitoring Scheme“ gibt es schon seit 1976. Doch auch in den Niederlanden hatte man gute Erfahrungen mit dem 1991 gestarteten „Landelijk Meetnet Dagvlinders“ gemacht. Warum also nicht auch in Deutschland eine bundesweite Falter-Fahndung auf die Beine stellen? Zusammen mit der Stiftung „Butterfly Conservation Europe“ hat das UFZ 2005 eine entsprechende Initiative ins Leben gerufen. Nun, zum 20. Jubiläum des „Tagfalter-Monitorings Deutschland“, ziehen die Josef Settele und sein Team eine rundum positive Bilanz.

Schon allein die Zahl der untersuchten Gebiete spricht für sich. 2005 ist das Projekt mit 180 Zählstrecken gestartet, ein Jahr später waren es schon 300. Und das Interesse ist immer weiter gewachsen. Inzwischen laufen die Falter-Fahnder rund 600 über ganz Deutschland verteilte Strecken ab. Es sind völlig unterschiedliche Menschen, die sich für diese Art der Hobby-Forschung begeistern können – von Schulklassen bis zur 94-jährigen Seniorin. Die Mehrheit sei zwar über 50, doch Nachwuchssorgen habe das Tagfalter-Monitoring nicht, berichtet Elisabeth Kühn vom UFZ. Als Projektkoordinatorin sorgt sie dafür, dass alle Interessierten auch wirklich teilnehmen können und rasch eine Antwort auf ihre Fragen bekommen. „Die Leute melden sich meist per Mail bei mir, und ich schicke ihnen dann die nötigen Informationen“, sagt die Biologin.

Zudem verfügt das Projekt auch über ein Netz von regionalen Fachleuten, die Neulinge beim Einstieg unterstützen. Wer Hilfe beim Bestimmen der Arten braucht, kann ihnen zum Beispiel Fotos der fraglichen Kandidaten schicken. Doch in der Regel kommen die meisten Zähler schon im zweiten Jahr allein zurecht. Denn auf einer durchschnittlichen Zählstrecke flattern vielleicht zehn oder zwanzig Arten herum, von denen sich viele recht gut unterscheiden lassen.

Jede dieser Beobachtungen fügt sich wie ein Mosaiksteinchen in das aktuelle Bild von der Schmetterlingswelt und ihren Veränderungen ein. Welche Arten gehören zu den Gewinnern, welche zu den Verlierern des Klimawandels? Und wie wirkt sich eine veränderte Landnutzung auf die Artenvielfalt aus? Für Schmetterlinge lassen sich solche Fragen mittlerweile deutlich besser beantworten als für die meisten anderen Insekten. Und dazu hat das Tagfalter-Monitoring einen entscheidenden Beitrag geleistet. „Für uns ist dieses Projekt eine sehr gute Methode, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen“, betont Elisabeth Kühn.

Gerade Tagfalter können nämlich spannende Informationen über alle möglichen Umweltveränderungen liefern. Denn viele Arten haben recht spezielle Ansprüche an das Klima und die Vegetation ihres Lebensraums. Sobald da etwas in Bewegung gerät, reagieren sie prompt: Da eine Schmetterlingsgeneration meist nur ein paar Monate bis maximal ein Jahr lebt und entsprechend wenig Zeit für die Fortpflanzung braucht, wachsen oder schrumpfen die Bestände oft relativ schnell.

„Allerdings sollte man wissen, dass die Zahlen auch von Natur aus stark schwanken können“, sagt Josef Settele. Wenn die Vorkommen einer Art zwei oder drei Jahre lang zurückgehen, muss das also nicht unbedingt ein Alarmzeichen sein. Wer echte Trends aufspüren will, muss daher Jahrzehnte lang Daten sammeln – und das auch noch in möglichst vielen Gebieten. Das aber ist eine Aufgabe, die ein Forschungsinstitut niemals allein stemmen könnte. Personal und Geld reichen für ein solches Mammutprojekt einfach nicht aus. Ohne die Unterstützung von Freiwilligen müsste deshalb so manche wissenschaftliche Frage unbeantwortet bleiben.

Josef Settele ist begeistert von dem Enthusiasmus, mit dem sich viele Falter-Fans in die Arbeit stürzen. „Manche haben ohne Vorkenntnisse angefangen und sind im Rahmen dieses Projekts richtige Cracks geworden“, freut sich der Ökologe. „Die kennen ihre Arten jetzt zum Teil deutlich besser als ich.“ Auch habe das Monitoring bei einigen Beteiligten ein weitergehendes Interesse an Insekten geweckt. „Da waren die Tagfalter eine Art Einstiegsdroge“, sagt der Forscher. „Und nun beschäftigen sie sich mit exotischen Gruppen wie Mistkäfern oder Federgeistchen.“ Für ihn gehört das zu den rundum positiven Erfahrungen, die er in den zwanzig Jahren seit dem Beginn des Projekts gemacht hat. Man habe es geschafft, das etwas verstaubte Image der Insektenkunde zu verändern und Menschen für die Arten, die Ökologie und die Veränderungen in ihrer Umgebung zu sensibilisieren.

Dabei kann die Falter-Fahndung manchmal auch frustrierend sein. Zum Beispiel, wenn man immer wieder seine Strecke abläuft, ohne ein einziges Tier zu entdecken. Das ist im vergangenen Frühling und Sommer in einigen Regionen durchaus vorgekommen. Denn 2024 war ein eher schlechtes Schmetterlingsjahr. Selbst einst sehr häufige Arten wie der Kleine Fuchs machten sich rar.

Woran das genau liegt, ist oft schwer zu sagen. Möglicherweise hat der trockene Herbst 2023 vielen überwinternden Schmetterlingen zu schaffen gemacht, die dann nicht genug Kraft fürs Überwintern tanken konnten. Beim Kleinen Fuchs können auch zu milde Winter eine Rolle spielen. Denn diese Tiere verbringen die kalte Jahreszeit in einer Art Winterschlaf, aus dem sie bei höheren Temperaturen immer wieder aufwachen. Dann verbrauchen sie viel Energie, finden aber mangels Blüten nichts zu fressen – eine Herausforderung, die viele nicht überleben. Wenn solche Situationen häufiger auftreten, kann das auch zu einem dauerhaften Rückgang der Populationen führen. Es könnte also sein, dass der bekannte Schmetterling mit den rot gemusterten Flügeln zu den Verlierern des Klimawandels gehört.

Noch reichen die Informationen aus zwanzig Jahren Zählung nicht aus, um die Bestandsentwicklung aller Schmetterlinge einzuschätzen. Von den 178 Arten, die derzeit in Deutschland herumflattern sollen, erfasst das Projekt ungefähr 120. Der Rest hat sich der Fahndung bisher entzogen, weil er entweder extrem selten ist oder nur in bestimmten Regionen wie den Alpen vorkommt. Bei 82 Arten ist die Datenlage mittlerweile so gut, dass die Forscher aus den Beobachtungen Trends berechnen können.

Die Ergebnisse fallen nicht sonderlich positiv aus. Zwar nehmen einige wärmeliebende Arten wie der Mauerfuchs, der Kleine Perlmutterfalter oder der Aurorafalter zu. Insgesamt zeigen die bis 2023 erhobenen Daten allerdings eher einen Abwärtstrend: „18 Arten nehmen zu, 28 Arten haben ihr Niveau gehalten und 36 Arten nehmen ab“, resümiert Josef Settele. Besonders schlecht geht es dabei oft Faltern mit speziellen Ansprüchen, die an ganz bestimmte Pflanzenarten oder Lebensräume angepasst sind.

Solche Trend-Berechnungen gibt es mittlerweile nicht nur für Deutschland. Denn das Tagfalter-Monitoring hat Schule gemacht. Heutzutage begeben sich in ganz Europa rund 6.000 ehrenamtliche Zähler auf die Spur der Schmetterlinge. Da sie alle nach der gleichen Methode arbeiten, sind die Daten vergleichbar und können daher auch europaweite Entwicklungen in der Falterwelt sichtbar machen.

So lassen sich nicht nur Trends für einzelne Arten, sondern auch für die Bewohner bestimmter Lebensräume berechnen. Genau das ist die Idee hinter dem „Index der Grünlandschmetterlinge“, der sich aus den Bestandsentwicklungen von 17 typischen Bewohnern von Wiesen und Weiden zusammensetzt. Wenn sich die positiven und negativen Trends bei diesen Arten etwa die Waage halten, bleibt der Indikator auf dem gleichen Niveau. Gehen mehr Arten zurück, als im gleichen Zeitraum zunehmen, sinkt der Wert – und umgekehrt. Niedrigere Werte bedeuten also größere Probleme für die Grünlandbewohner. „Dieser Indikator zeigt anschaulich, wie sich wohl vor allem die Landnutzung auf die Artenvielfalt auswirkt“, sagt Elisabeth Kühn.

Auf europäischer Ebene wird er künftig eine sehr wichtige Rolle spielen. Denn die „Verordnung zur Wiederherstellung der Natur“, die im Juni 2024 mit knapper Mehrheit im EU Ministerrat verabschiedet wurde, sieht für die gesamte EU verbindliche Ziele für die Renaturierung verschiedener Ökosysteme vor. Zwei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung müssen die Mitgliedsstaaten Pläne darüber vorlegen, wie sie diese Ziele erreichen wollen. Zudem müssen sie den Erfolg ihrer Maßnahmen dokumentieren.

Letzteres ist allerdings gar nicht so einfach. Denn es gibt bisher nur wenige Indikatoren, die den Zustand der biologischen Vielfalt zuverlässig anzeigen können. In der Verordnung sind drei davon vorgesehen, darunter der „Index der Grünlandschmetterlinge“. „Für uns ist das eine echte Erfolgsgeschichte“, sagt Josef Settele. „Es ist ja sehr selten, dass Projektergebnisse in ein Gesetz münden.“

Damit die Falter davon tatsächlich profitieren können, ist nach Einschätzung der Fachleute ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig. Es gelte, die nachhaltige Nutzung von Wiesen und Weiden zu fördern, neue wertvolle Lebensräume zu schaffen und die bestehenden besser miteinander zu vernetzen. Und auch von einer wirksamen Bekämpfung des Klimawandels würden die meisten Grünland-Schmetterlinge profitieren. Schmetterlinge sind eben nicht nur schön, sondern auch verletzlich. Und manchmal gar nicht leicht zufriedenzustellen.

Wie man Falter-Zähler wird

Beim Tagfalter-Monitoring können alle Interessierten mitmachen, die gerne in der Natur unterwegs sind und ein bis zwei Stunden Zeit pro Woche haben. Vorkenntnisse oder eine spezielle Ausrüstung sind nicht nötig. Nützlich sind jedoch ein gutes Bestimmungsbuch und ein Kescher, mit dem man nicht gleich erkannte Tiere einfangen kann. Mithilfe von Fachleuten wählen die Zähler zunächst eine geeignete Strecke meist in der Nähe ihres Wohnortes aus. Die laufen sie dann zwischen dem 1. April und dem 30. September am besten einmal wöchentlich, mindestens aber zehnmal pro Saison ab und erfassen nach einem festgelegten Verfahren alle Schmetterlinge. Außerdem werden weitere Daten wie Uhrzeit, Temperatur und Windstärke notiert.

Über eine Plattform im Internet lassen sich diese Informationen zur Auswertung an das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung übermitteln. Dort gibt es auch ausführliche Informationen zum Mitmachen: https://www.ufz.de/tagfalter-monitoring/