Wieder ist eine Rekordmarke geknackt: Seit November 2022 leben nach Berechnungen der Vereinten Nationen zum ersten Mal mehr als acht Milliarden Menschen auf der Erde. Und obwohl die Weltbevölkerung inzwischen deutlich langsamer wächst als in früheren Jahrzehnten, werden es jeden Tag mehr. Die jüngsten UN-Prognosen rechnen bis zum Jahr 2050 mit 9,7 Milliarden Menschen, von denen 68 Prozent in Städten leben werden. Sie alle müssen ernährt werden. Fachleute plädieren dafür, die Landwirtschaft künftig mehr in Städte und Innenräume zu verlegen. So könne man Energie, Ressourcen und Platz sparen und die Stadtbewohner auf nachhaltige Weise mit gesunden Lebensmitteln direkt aus ihrer Nachbarschaft versorgen. Wie das in der Praxis aussehen könnte, erprobt ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt namens „CUBES Circle“, das an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) koordiniert wird. Ein interdisziplinäres Forschungsteam um die HU-Wissenschaftler Christian Ulrichs und Uwe Schmidt tüftelt darin an einer Indoor-Farm, die Gemüsebau mit Fisch- und Insektenzucht kombiniert. Für jeden der drei Bereiche gibt es eigene Produktionseinheiten, die sogenannten Cubes (Würfel). So wachsen die Pflanzen in speziellen Niedrigenergie-Gewächshäusern heran, die Fische in Tanks, in denen man die Temperaturen, pH-Werte und sonstigen Bedingungen perfekt an die Bedürfnisse der jeweiligen Arten anpassen kann. Und auch die Insekten haben ihr eigenes Reich, in dem sie optimale Lebensbedingungen finden. „Der Trick ist nun, diese einzelnen Module auf eine intelligente Weise miteinander zu verbinden“, erklärt Projektmitarbeiter Werner Kloas vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin. Denn so könne man die Ressourcen deutlich effizienter nutzen, als wenn jeder Bereich für sich allein wirtschaften würde. Diese Idee verfolgen er und sein Team bereits seit 2007. „Wir haben damals überlegt, wie man die Aquakultur in Deutschland voranbringen und nachhaltiger gestalten könnte“, erinnert sich der Forscher. Herausgekommen ist dabei ein Aquaponik genanntes Verfahren, das Pflanzenbau und Fischzucht kombiniert. Der Vorteil dabei: Was im einen Bereich als Abfall übrig bleibt, wird im anderen zur wichtigen Ressource. Wenn man Fische in einer Aquakultur hält, muss man jeden Tag zwischen fünf und 15 Prozent des Wassers austauschen. Denn sonst reichert sich darin zu viel Nitrat an, das aus den Stoffwechselprodukten der Tiere entsteht. „Das entnommene nährstoffreiche Wasser müsste man normalerweise über die Kläranlage entsorgen“, erklärt Werner Kloas. „Wir verwenden es stattdessen als Flüssigdünger.“ Auch das von den Fischen ausgeatmete Kohlendioxid können die Pflanzen verwerten, um mittels Fotosynthese Energie zu gewinnen und im Gegenzug Sauerstoff zu produzieren. Der Wasserdampf, den sie aus ihren Spaltöffnungen abgeben, kommt im Gegenzug wieder den Fischen zugute: Er wird durch ein Kühlsystem kondensiert und wieder in den Fischkreislauf eingespeist. So entsteht ein nahezu geschlossener Wasserkreislauf, der so gut wie kein Wasser verbraucht und in dem Ressourcen wie Nährstoffe, Wärme und Strom doppelt genutzt werden können. Das Projekt
„Tomatenfisch“ hat bereits gezeigt, wie gut das Ganze funktioniert. In einem Gewächshaus hat das Team vom IGB Fische und Tomaten unter einem Dach herangezogen. Die Erträge konnten sich sehen lassen. „Wenn man die Tomaten künstlich beleuchtet und mit Kohlendioxid begast, kann man im Extremfall von einer einzigen Pflanze in einer Saison bis zu 70 Kilogramm Früchte ernten“, sagt Werner Kloas. Das sind Mengen, wie sie sonst nur in auf reinen Tomatenanbau spezialisierten Hightech-Gewächshäusern erreicht werden. Auch die Inhaltsstoffe der Früchte, etwa ihr Gehalt an Farbstoffen wie Lycopin und Beta-Carotin, unterschieden sich zwischen beiden Anbauformen nicht. Dazu lieferte die Anlage auch beachtliche Mengen an Süßwasserfischen – im Schnitt etwa ein Kilogramm pro fünf Kilogramm Tomaten. „Der Ertrag hängt dabei natürlich auch von der Fischart ab“, sagt Werner Kloas. So lassen sich afrikanische Raubwelse zum Beispiel relativ eng zusammen halten, ohne unter Stress zu geraten. Deshalb brachten diese schwimmenden Räuber etwa den doppelten bis vierfachen Ertrag wie die zu den Buntbarschen gehörenden Tilapien. In beiden Fällen aber ließen sich die Fische zusammen mit Tomaten genauso gut heranziehen wie allein – und das bei deutlich geringerem Ressourcenverbrauch. Diese Erfahrungen fließen nun in das Projekt CUBES Circle ein, in dem die Forscherinnen und Forscher über die Aquaponik hinausgehen. Bisher nämlich ließen sich weder der Biomüll aus der Tomatenproduktion noch die in den Fischbecken zu Boden sinkenden Sedimente vernünftig nutzen. Also bekommt die neue Indoor-Farm nun noch eine dritte Produktionslinie: Die Insektenzucht. Denn die Sechsbeiner haben etliche Vertreter in ihren Reihen, die solche Überreste verwerten können. Solche Tiere mit einzuspannen, ist also ein weiterer Schritt in Richtung einer kreislaufbasierten und abfallfreien Nahrungsmittelproduktion. Große Hoffnungen setzt das Projekt-Team vor allem auf die als besonders robust und anspruchslos geltenden Soldatenfliegen der Art Hermetia illucens, die aus dem tropischen Afrika stammen. „Deren Larven kann man mit allen möglichen feuchten Bioabfällen füttern“, sagt Werner Kloas. In nur drei Wochen wachsen sie dann heran und können geerntet werden. „Theoretisch würden sie sich sogar für den menschlichen Verzehr eignen“, meint der Forscher. Schließlich liefern Insekten hochwertige Proteine, und einige von ihnen gelten in manchen Teilen der Welt sogar als Delikatessen. Da das für viele Menschen in Europa aber noch ein sehr gewöhnungsbedürftiger Gedanke ist, sollen die Sechsbeiner aus der Berliner Indoor-Farm zunächst einem anderen Zweck dienen: Wenn man sie trocknet und entfettet, lässt sich daraus ein sehr gutes und umweltfreundliches Fischfutter herstellen. In diesem Bereich liegt einer der Forschungsschwerpunkte des Berliner IGB-Teams. Denn die Ernährung der Tiere gilt als einer der Knackpunkte für eine umweltfreundlichere Fischzucht. Das traditionell dafür verwendete Fischmehl ist ökologisch problematisch, weil es oft aus ohnehin schon überfischten Meeresbewohnern gewonnen wird. Zwar lässt es sich auch aus Schlachtabfällen recyceln. Das reicht aber nicht, um den Bedarf der Aquakultur zu decken. Doch auch pflanzliche Alternativen haben ihre Tücken. Und zwar nicht nur im Fall von Soja, dessen Anbau viel Wasser verbraucht und vielerorts den wertvollen Regenwald verdrängt. „Auch ein Kilogramm Weizen oder Erbsen zu produzieren verschlingt 700 bis 800 Liter Wasser“, sagt Werner Kloas. „Solche Nahrungsmittel sollten wir daher lieber selbst essen, statt deren Proteine an Fische zu verfüttern.“ Zumal pflanzliche Kost für Fische nicht die optimale Kombination von Aminosäuren bietet. Das Aminosäure-profil von Insekten passt dagegen deutlich besser zu den Ansprüchen der schwimmenden Kundschaft, zeigen die Untersuchungen der IGB-Forscher. „Bei allesfressenden Süßwasserarten wie Karpfen und Tilapien kann man das konventionelle Futter komplett durch Mehl aus Fliegenmaden ersetzen“, sagt Werner Kloas. Eine solche Umstellung wäre seiner Einschätzung nach ein großer Schritt in Richtung einer nachhaltigeren Aquakultur, weil sich die Insekten ohne größere Umweltfolgen produzieren lassen. Neben den schon bewährten Tila-pien und Raubwelsen testen die Forscherinnen und Forscher auch noch weitere Bewohner für ihre künftige Kombi-Farm. Gesucht sind dabei Arten, die bei möglichst günstigen Futterkosten einen hohen Ertrag liefern. Ein interessanter Kandidat ist zum Beispiel der aus Südamerika stammende Schwarze Pacu. Das ist ein vegetarisch lebender Verwandter der Piranhas, der mit seinen erstaunlich menschenähnlichen Zähnen Nüsse und Samen zerbeißt und bis zu 20 Kilogramm schwer werden kann. „In größeren Anlagen könnte man auch mehrere Fisch-Module mit unterschiedlichen Arten integrieren“, sagt Werner Kloas. Auch die Gemüseproduktion der neuen Form von Indoor-Landwirtschaft muss sich keineswegs nur auf Tomaten beschränken. Inzwischen gibt es rund 250 Nutzpflanzen, die sich in einem Hydroponik genannten Verfahren in Nährlösungen statt in Erde heranziehen lassen. Die Palette reicht dabei von Kräutern und Zwiebeln bis hin zu Paprika und Zucchini. Das alles sind Produkte, die künftig in eigenen Modulen angebaut werden könnten. Die einzelnen Einheiten der Kombi-Farm funktionieren bereits. Nun gilt es, sie zu einem funktionsfähigen Ganzen zu verbinden. An der Humboldt-Universität entsteht dazu eine Pilot-Anlage, die alle Produktionswürfel integrieren und im Frühjahr Richtfest feiern soll. Bis eine echte Nahrungsmittelfabrik den Betrieb aufnehmen kann, wird das Team vor allem an der Steuer- und Regelungstechnik noch einiges zu tüfteln haben. Doch Werner Kloas ist optimistisch: „Wir werden künftig eine Landwirtschaft brauchen, die viel sparsamer mit den Ressourcen umgeht als bisher“, sagt der Forscher. „Und dazu kann unsere Idee einen Beitrag leisten.“