Bevor Entwicklungen ausgelöst werden, die die Grundlagen unserer Zivilisation verändern, sollte erst einmal klar sein, wo die Menschheit steht. Das ist der Anspruch von Vaclav Smil, der sein Leben als Energiewissenschaftler verbracht hat. Er lehrte an der University of Manitoba und publizierte rund 50 Bücher zu diesen Themen. Jetzt, mit 78 Jahren, legt er sein Alterswerk vor, das ein Vermächtnis zu mehr Zukunftsgestaltung und weniger Angstmacherei ist. Es geht ihm nicht um Glaubenssätze und Rettungsromantik, sondern um pure Fakten. Darin liegt schon der erste Tadel, der an die Akteure, die die Weichen für die Zukunft verstellen wollen, gerichtet ist. Wer die Welt verändern will, sollte erst verstehen, wie sie wirklich funktioniert. Davon seien wir aber weit entfernt, stellt Vaclav Smil schon im Vorwort seines Buches fest. Die meisten reden schon mal mit, haben aber nicht mehr zu bieten als Glaubenssätze, die sie emotional aufpusten. „Die meisten Angehörigen moderner Gesellschaften haben nur noch oberflächliche Kenntnis davon, wie die Welt wirklich funktioniert. Zwei wichtige Ursachen für diese Ignoranz liegen in der Verstädterung und Mechanisierung. Die meisten Stadtbewohner haben jeden persönlichen Bezug zur Erzeugung von Nahrungsmitteln verloren und haben auch keine Ahnung, wie Maschinen und Geräte gebaut werden.“ Rückwärtsgewandte Bewahrungsgedanken und vorwärts ausgerichtete virtuelle Lösungsszenarien kollidieren. Gehandelt werde mit Elektronenströmen, die meilenweit von den materiellen Realitäten des Lebens auf der Erde entfernt sind. Es gebe nur noch eine oberflächliche Kenntnis davon, wie die Welt funktioniert. Menschen von heute interagieren mit leicht bedienbaren Gerätschaften, die sie entweder bedienen und nicht verstehen, oder ablehnen, weil sie sie nicht verstehen. Um die Ressourcen, die für die Weltkreisläufe benötigt werden, kümmern sich nur noch wenige. „Die meisten von uns sind über die Grundlagen der Weltwirtschaft uninformiert oder ihre Annahmen sind einfach falsch“, sagt er. Sein Buch zielt darauf ab, dies zu korrigieren. Nicht elektronische Datenströme sind Grundlage des modernen Lebens, sondern Materialien. „Was wir brauchen, ist die langweilige, sachlich korrekte und genaue Mitte. Denn nur aus dieser Mitte kommen die Lösungen“, sagt Vaclav Smil. Für ihn leben wir in einer Welt übertriebener Versprechungen und nehmen Wissenschaft als Popkultur. Er versucht, das Denken wieder auf eine Spur von Realität auszurichten und bei Lösungsansätzen gesunden Menschenverstand einzubringen. In seinem Buch befasst sich Vaclav Smil mit Energie, Nahrungsmittelproduktion und Ernährungsweisen, Risiken und Klimawandel. Alles Stichworte, die einzeln Problemszenarien aufzeigen. Vaclav Smil aber verknüpft die Bereiche und zeigt, dass die materielle Welt wieder in den Fokus genommen werden muss, um zukunftsorientiert agieren zu können. Denn so schön die Datenhighways sind, so sehr eine Entmaterialisierung durch Künstliche Intelligenz vorangetrieben wird, so ist doch die notwendige Verankerung in irdischer Umwelt nicht aufzuheben. Weizen lässt sich nicht mailen, Metallkonstruktionen sind nötig, um Strukturen zu schaffen, Wärme ist nötig, um menschliches Leben zu halten. Erst seit der Mensch das Feuer hat, hat er Energie, seine Zukunft zu gestalten.
Um eine ernsthafte Diskussion über eine Energiewende zu führen, die uns von der Verbrennung fossilen Kohlenstoffs wegführt, brauchen wir eine gemeinsame Anerkennung der materiellen Realitäten der Welt. Das heißt, ein Eingeständnis ist nötig, dass unsere derzeitige Lebensweise von der Verbrennung dieses fossilen Kohlenstoffs abhängt. Es gelingt Vaclav Smil hervorragend, die Energiesysteme der Welt wie sie heute funktionieren zu erklären. Im ersten Kapitel behandelt er Kraftstoffe und die Stromerzeugung. Alles, was Vaclav Smil möchte, ist, dass die Menschen sich alle Emissionsbereiche ansehen – Stromerzeugung, Fertigung, Transport usw. – und realistische, wirtschaftlich tragfähige Pläne zur Reduzierung der Emissionen in jedem Bereich vorschlagen. Vaclav Smil zeigt in seinem Buch auf, dass die Menschheit mit fundamentalen Ungewissheiten leben lernen muss. Vorausschauend zu handeln ist nur möglich, wenn eine realistische Erfassung von Daten aus Vergangenheit und Gegenwart die Basis legt, die Welt einzuordnen. Emotionale Bewertungen sind nicht zielführend. Es kommt darauf an, was wir begreifen und wie wir agieren. Er sagt: „Die Zukunft ist nicht (und war nie) vorbestimmt. Was sie bringen wird, hängt von unserem Handeln ab.“
UNSER FAZIT
Obwohl Vaclav Smil zu vielen Themen starke Meinungen hat, basieren sie immer auf Fakten. Insofern ist dieses Buch mehr als notwendig. Es liefert profunde Fakten und stärkt so auch den Leser in seiner Zukunftskompetenz.
Lesen Sie Auszüge aus dem Buch mit freundlicher Genehmigung des Verlags C.H.Beck München (Ausschnitt der EINLEITUNG)
Im Jahr 2020 lag der Pro-Kopf-Energieverbrauch bei rund zwei Fünfteln der Weltbevölkerung (3,1 Milliarden Menschen, darunter fast alle Bewohner des südlich der Sahara gelegenen Afrika) in derselben Größenordnung wie in Deutschland und Frankreich im Jahr 1860! Wenn diese 3,1 Milliarden Menschen zu einem menschenwürdigen Lebensstandard aufschließen sollen, werden sie ihren Pro-Kopf-Energieverbrauch mindestens verdoppeln, besser jedoch verdreifachen müssen, was einhergehen würde mit einer Vervielfachung ihres Stromverbrauchs, einer Steigerung ihrer Nahrungsmittelproduktion und mit der Errichtung grundlegender städtischer, industrieller und dem Transport dienender Infrastrukturen. Die Umsetzung dieser Vorgaben würde jedoch weiter steigende Belastungen der Biosphäre nach sich ziehen. Und wie werden wir dann mit dem im Gang befindlichen Klimawandel umgehen? Es besteht mittlerweile ein breiter Konsens darüber, dass wir irgendetwas tun müssen, um viele höchst unerträgliche Konsequenzen abzufangen, doch welche Maßnahmen, welche Verhaltensänderungen wären die zweckmäßigsten? Diejenigen, die die energetischen und materiellen Imperative unserer Welt ignorieren, die lieber das Mantra ihrer grünen Lösungen verkünden, als zu erforschen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind, tun sich leicht mit der Antwort: Einfach CO2-Neutralität herstellen – vom Verbrennen fossilen Kohlenstoffs umschalten auf die Nutzung unerschöpflicher Ressourcen an erneuerbarer Energie. Der große Haken dabei: Wir sind eine von fossilen Brennstoffen angetriebene Zivilisation, deren wissenschaftlicher und technischer Fortschritt, deren Lebensqualität und deren Wohlstand auf der Verbrennung riesiger Mengen fossilen Kohlenstoffs basieren, und wir können uns von dieser entscheidenden Determinante unserer Laufbahn auf Erden nicht einfach binnen weniger Jahrzehnte, geschweige denn Jahre, verabschieden. Eine vollständige Entkarbonisierung der Weltwirtschaft bis 2050 ist aus heutiger Sicht nur vorstellbar um den Preis einer globalen wirtschaftlichen Schrumpfung in einer unvorstellbaren Größenordnung oder als Resultat außerordentlich rapider Transformationen auf der Basis fast märchenhafter technischer Fortschritte. Wer aber würde vorsätzlich das Erstere einleiten, solange es uns an einer überzeugenden, praktikablen, bezahlbaren globalen Strategie und an den technischen Mitteln fehlt, Letztere zu bewerkstelligen? Mit welcher Entwicklung ist zu rechnen? Die Kluft zwischen Wunschdenken und Realität ist sehr weit, aber in einer demokratischen Gesellschaft kann kein Wettstreit der Ideen und Konzepte in rationaler Weise ablaufen, ohne dass alle Seiten ein Mindestmaß relevanter Informationen über die reale Weltlage miteinander teilen, anstatt nur ihre jeweils eigenen Dogmen vor sich herzutragen und Forderungen zu stellen, die jeder physikalischen Machbarkeit entrückt sind.
Aus Kapitel 1
Entkarbonisierung: Tempo und Umfang
In der Erdkruste herrscht kein Mangel an fossilen Bodenschätzen. Wir laufen nicht Gefahr, in absehbarer Zeit die bekannten Vorkommen von Kohle und Erdöl aufzubrauchen: Bliebe es bei den Förderquoten von 2020, würden die Kohlereserven noch rund 120, die Öl- und Gasreserven noch rund 50 Jahre reichen; fortdauernde Explorationen würden immer wieder Teile davon aus der Kategorie „Vorkommen“ in die Kategorie „Reserven“ (technisch und wirtschaftlich nutzbar) befördern. Der Rückgriff auf fossile Brennstoffe hat unsere moderne Welt geschaffen, doch Befürchtungen hinsichtlich der relativ rasch voranschreitenden globalen Klimaerwärmung haben zu der zunehmend breiter unterstützten Forderung geführt, mit der Verbrennung fossiler Kohlenwasserstoffe so schnell wie möglich Schluss zu machen. Es ist das Idealziel verkündet worden, mit der Entkarbonisierung der globalen Energieversorgung schnell genug voranzukommen, um die durchschnittliche globale Erwärmung auf höchstens 1,5 °C (im schlimmsten Fall auf 2 °C) zu begrenzen. Um das zu schaffen, müssten gemäß den meisten Klimamodellen die CO2-Emissionen weltweit bis 2050 auf null zurückgefahren und für den Rest des Jahrhunderts ins Minus gedrückt werden. Man beachte, dass nicht die totale Entkarbonisierung das Ziel ist, sondern eine „Nettonull“, also eine CO2-neutrale Emissionsbilanz. Diese Definition gestattet fortdauernde CO2-Emissionen, wenn diesen in gleicher Größenordnung eine technische Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre, das dauerhaft unterirdisch deponiert werden müsste, gegenüber stünde (etwas, das es bislang noch nicht gibt!). Alternativ könnte der Ausgleich auch durch temporäre Maßnahmen wie massenhafte Baumpflanzungen bewerkstelligt werden. Das Verkünden von Nettonull-Zielen, die in einem auf 0 oder 5 endenden Jahr erreicht sein sollen, ist spätestens im Jahr 2020 zu einer beliebten „Wir-auch-Übung“ geworden: Mehr als 100 Länder haben sich dem Reigen angeschlossen: Norwegen will die Klimaneutralität 2030 erreichen, Finnland 2035, die Europäische Union als ganze sowie Kanada, Japan und Südafrika 2050, China (der weltgrößte Verbraucher fossiler Brennstoffe) 2060.
Dass die Entkarbonisierung, von der Stromproduktion abgesehen, bisher nur schleppende Fortschritte gemacht hat, sollte uns nicht verwundern. Deutschland wird bald die Hälfte seines elektrischen Stromes aus Erneuerbaren gewinnen, doch in den zwei Jahrzehnten seit Beginn der Energiewende ist der Anteil fossiler Brennstoffe am Primärenergie-Aufkommen des Landes lediglich von rund 84 auf 78 Prozent zurückgegangen: Die Deutschen lieben ihre freie Fahrt auf der Autobahn und ihre Interkontinentalflüge, und die deutsche Industrie brummt dank Erdgas und Erdöl. Wenn das Land so weitermacht wie in den letzten 20 Jahren, wird seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen 2040 noch immer bei knapp 70 Prozent liegen. Und wie sieht es in Ländern aus, die bei der Umstellung auf erneuerbare Energien bisher nicht volle Kraft voraus gefahren sind? Japan ist hier das Beispiel erster Wahl: Im Jahr 2000 entfielen rund 83 Prozent seiner Primärenergie auf fossile Brennstoffe. 2019 lag dieser Anteil (wegen des Verlusts von Kernkraft-Kapazitäten nach dem Fukushima-GAU und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, mehr Gas und Öl einzuführen) bei 90 Prozent! Die USA haben zwar die Verfeuerung von Kohle stark zurückgefahren – bei der Stromerzeugung ist Erdgas an die Stelle von Kohle getreten – , aber der Anteil fossiler Brennstoffe am Primärenergie-Aufkommen betrug 2019 noch immer 80 Prozent. China konnte zwar den Anteil fossiler Brennstoffe an seiner Primärenergie-Bilanz von 93 Prozent im Jahr 2000 auf 85 Prozent 2019 senken, doch ging dieser relative Rückgang mit einer Vervielfachung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe auf nahezu das Dreifache einher. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas war der Hauptgrund dafür, dass der weltweite Verbrauch an fossilen Brennstoffen in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts um rund 45 Prozent zunahm und dass trotz des starken und teuren Ausbaus der erneuerbaren Energien der Anteil fossiler Brennstoffe am weltweiten Primärenergie-Aufkommen nur unmerklich zurückging – von 87 auf rund 84 Prozent. Die weltweite Nachfrage nach fossilem Kohlenstoff liegt derzeit bei knapp über 10 Milliarden Tonnen pro Jahr – das entspricht fast der fünffachen Masse allen weltweit geernteten und für die Ernährung der Weltbevölkerung verwendeten Getreides und mehr als der doppelten Masse des von den knapp 8 Milliarden Erdbewohnern während eines Jahres getrunkenen Wassers. Es sollte sich von selbst verstehen, dass die Ausmusterung und Ersetzung einer solchen Masse an Ressourcen wohl kaum etwas ist, das sich am besten durch die staatliche Verkündung von Zielwerten für ein bestimmtes auf 0 oder 5 endendes Jahr schaffen lässt. Sowohl der große Anteil fossiler Kohlenstoffe als auch der Grad unserer Abhängigkeit von ihnen lassen ihre rasche Ersetzung als unmöglich erscheinen. Das ist kein voreingenommener persönlicher Eindruck, beruhend auf einem unzulänglichen Verständnis globaler Energiezusammenhänge, sondern eine realistische Schlussfolgerung aus erkannten technischen und wirtschaftlichen Realitäten. Jenseits der Politik und ihrer hektischen Vorgaben und Versprechungen sind diese Realitäten in allen sorgfältig erarbeiteten wissenschaftlichen Langfrist-Szenarien für die künftige Energieversorgung anerkannt worden. Die „International Energy Agency“ (IEA) sagt in ihrem 2020 veröffentlichten „Stated Policies Scenario“ einen Rückgang des Anteils fossiler Brennstoffe von 80 Prozent des weltweiten Gesamtverbrauchs in 2019 auf 72 Prozent bis 2040 voraus. In ihrem bis dato offensivsten Entkarbonisierungs-Szenario, in dem sie eine deutlich schnellere weltweite Entkarbonisierung zugrunde legt, dem „Sustainable Development Scenario“, schätzt dieselbe IEA den Anteil fossiler Brennstoffe an der weltweiten Nachfrage nach Primärenergie für das Jahr 2040 auf 56 Prozent. Wie plausibel ist es anzunehmen, dass sich dieser erhebliche Anteil innerhalb eines einzigen Jahrzehnts auf nahe null reduzieren ließe?
Die reiche Welt mit ihrem Wohlstandsniveau, ihren technischen Möglichkeiten, ihrem hohen Konsumniveau und dem damit einhergehenden Müllaufkommen ist sicher in der Lage, eindrucksvolle und relativ schnelle Schritte in Richtung Entkarbonisierung zu machen. (Sie könnte und sollte, offen gesagt, ihren Energieverbrauch in allen Bereichen senken.) Ganz anders sieht die Sache bei den mehr als 5 Milliarden Menschen aus, deren Energieverbrauch nur einen Bruchteil des Niveaus der reichen Länder erreicht, die sehr viel mehr Ammoniak bräuchten, um mit höheren Ernteerträgen ihre wachsende Bevölkerung ernähren zu können, und auch sehr viel mehr Stahl, Zement und Kunststoffe, um lebenswichtige Infrastrukturen errichten zu können. Was wir brauchen, ist eine stetige Reduktion unserer Abhängigkeit von den Energien, mit denen wir unsere moderne Welt geschaffen haben. Die meisten konkreten Parameter dieser bevorstehenden Wende kennen wir noch nicht, doch eines ist und bleibt sicher: Eine plötzliche Abkehr von den fossilen Kohlenstoffen wird nicht (und kann nicht) die Lösung sein, und wir werden diese auch nicht schnell ersetzen können. Es wird auf einen allmählichen Ablösungsprozess hinauslaufen.