Der medizinisch-therapeutische Komplex ist heute der größte der ganzen Welt, noch größer als der Digitalsektor. Alle anderen Entwicklungen spielen sozusagen der Gesundheit in die Hände: Silver Society, Konnektivität, Neo-Ökologie, sogar die Globalisierung. Schon seit längerem verändern sich die inneren Kontexte, in denen die Gesellschaft über Gesundheit denkt. Ein Blick zurück: In der frühindustriellen Zeit war man gesund, wenn man arbeitsfähig war. Vor etwa 30 Jahren begann sich ein neuer, proaktiverer Gesundheitsbegriff zu entwickeln. Der Fokus verlagerte sich auf Fitness. Man wollte der Krankheit sozusagen voraus sein, das ist die ursprüngliche Bedeutung von Wellness. In den vergangenen zehn, zwanzig Jahren hat sich der Bedeutungsradius des Gesundheitlichen dann massiv ausgeweitet. Erst Wellness, dann psychische Gesundheit, dann Health Empowerment – eine ganze Kaskade von spirituellen und sozialen Kontexten führte zu einer völlig neuen Definition von Gesundheit: als Lebensstil, innere Konstitution und Sinnerfüllung. Das Stichwort lautet heute Holistic Health: Gesundheit gerät mehr und mehr in einen ganzheitlichen Zusammenhang.
Das Rückgrat der Entwicklung ist immer noch die Funktionalmedizin, aber es gibt auch starke Tendenzen zu alternativer oder komplementärer Medizin, zu magischen und spirituellen Heilangeboten.
Dazwischen hat sich eine unsichtbare Grenzlinie aufgetan. Die moderne technische Medizin ist heute zwar immer mehr in der Lage, einzelne Krankheiten aufzuhalten oder zu heilen, doch sie hat keine wirkliche Antwort auf die Frage der Gesamtgesundheit, des gesellschaftlichen Wellbeing, gefunden. So breiten sich Zivilisationskrankheiten weiter aus, gerade in den Schwellenländern – und in einigen Wohlstandsländern sinkt die Lebenserwartung sogar wieder. In den meisten Industriestaaten wird die Morbiditätsphase, also die Zeitspanne der gesundheitlichen Behinderungen vor dem Tod, nicht mehr kleiner, sie weitet sich teilweise sogar aus. Vom klassischen Medizinsektor wird in den kommenden Jahrzehnten mehr und mehr ein „New Deal“ mit der Gesellschaft gefordert: Wie können wir Vorsorge ökonomisch in das Gesundheitssystem, das ja eigentlich ein Krankheitssystem ist, integrieren? Der öffentliche Gesundheitssektor zeigt sich gigantisch aufgebläht – und ist teilweise dysfunktional.
In der aktuellen Debatte wird da zum Beispiel über die finanzielle Optimierung der Krankenhäuser gesprochen. Doch um sie finanziell wirtschaftlich zu betreiben, müssten mehr Menschen länger krank sein, damit die ökonomische Auslastung der Häuser sich rechnet. Dem steht der Wunsch des Menschen nach Gesundheit diametral entgegen.
Der Begriff Holistic Health verbindet Umweltfragen, Lebensformen, Kulturfragen, ja selbst Architekturfragen mit einem radikal erweiterten Gesundheitsbegriff. Die Zukunft der Gesundheit sind nicht nur medizinische Glanzleistungen und medizintechnische Innovationen. Sondern vor allem: gesunde Städte, gesunde Arbeits- und Beziehungsformen – und gesunde Denkweisen.
Im Health Report werden starke Trends ausgemacht
Health-Trends beschreiben Entwicklungen in den gesundheitsorientierten Bedürfnissen, Wünschen und Werten der Menschen und der Gesellschaft, die prägende Auswirkungen in den Gesundheitsmärkten entfalten und diese grundlegend verändern.
Selbstoptimierung
Das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit treibt die Menschen an, ihre Gesundheit in die eigene Hand zu nehmen und selbst etwas für das individuelle Wohlbefinden zu tun. Der Wunsch, eine mögliche Erkrankung abzuwehren, zeigte sich in einem neuen Aufflammen der Trends Self-Tracking und Selbstoptimierung. Dabei ging es hier in erster Linie um das Überwachen des eigenen und gesamtgesellschaftlichen Gesundheitszustands – und nicht mehr wie zuvor um eine Steigerung des Gesundheitslevels.
Die Balance von Körper, Geist und Seele als Ganzes soll wieder hergestellt werden. Die komplexen Wechselwirkungen werden immer mehr verstanden. Dieses allumfassende Gesundheitsbewusstsein in der Gesellschaft treibt sozio-kulturelle Entwicklungen voran.
Krankheitsprophylaxe mit epigenetischer Ernährung
Das zeigt sich sehr deutlich im aktuellen Trend Epi-Food: Diesem liegen zwar biologische und medizinische Erkenntnisse zu epigenetischen Phänomenen im menschlichen Körper zugrunde, doch erst die Verknüpfung der Epigenetik mit der Ernährung lässt Epi-Food als Lifestyle-Phänomen entstehen. Anknüpfend an das Thema Darmgesundheit und die Bedeutung all der mikrobiellen Lebensgemeinschaften, aus denen der menschliche Körper besteht, erfreut sich eine wachsende Zahl an gesundheitsbewussten Essern und Esserinnen mit der passenden Ernährung daran, das körpereigene Mikrobiom positiv zu stimulieren. Mit Nahrungs-mitteln als Impulsgeber können so lebensstilbedingte Erkrankungen gemildert werden.
Im Kreislauf des hormonellen Wohlgefühls: Period Positivity
Die Erkenntnis, dass Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlgefühl zyklischen Schwankungen unterworfen sind, setzt sich durch. Dies künftig zu beachten, stellt eine gendergesundheitliche Selbstverständlichkeit dar. Period Positivity begründet sich auf einem wachsenden Selbstbewusstsein der Frauen im Umgang mit ihrem eigenen Körper und einem daraus resultierenden Wertewandel in der Gesellschaft: weg von der Tabuisierung der Monatsblutung hin zur Menstruation als etwas ganz Natürlichem. Zur individuellen Gesundheit gehört auch eine Akzeptanz der hormonellen Schwankungen – seitens sich selbst, aber auch seitens anderer Menschen. Der achtsame Umgang mit dem monatlichen Zyklus setzt ein klares Zeichen dafür. Noch immer ist die Menstruation mit Tabus belegt, gesundheitliche Einschränkungen werden nur verklausuliert zur Sprache gebracht. Eine neue Bewertung geschlechterspezifischer Gesundheitsthematiken steht an.
Klimakrise ist auch eine Gesundheitskrise
Der dritte in diesem Report beschriebene Health-Trend „Terrapy“ ist eine Reaktion auf die Klimakrise. Die Gesundheit des Planeten und die Gestaltung unserer Umwelt sind untrennbar verstrickt mit unserer individuellen Gesundheit. In der Gesellschaft steigt das Bewusstsein, dass die Patientin Erde behandelt werden muss, um auch selbst als Individuen und als Gemeinschaft gesund bleiben zu können. Dieser soziokulturelle Trend, getrieben vom Megatrend Neo-Ökologie, fordert von den Akteuren des Gesundheitssystems Verantwortung: Das betrifft ganzheitliche Behandlungsmethoden, aber auch Aufklärung über die Zusammenhänge von Klimaschutz und Gesundheit sowie das Schaffen von Handlungsanreizen für die Patienten und Patientinnen.
Neben dem Megatrend Gesundheit mit seinen Trend-ausprägungen haben vor allem die Megatrends Individualisierung, Konnektivität und Neo-Ökologie einen großen Einfluss auf die Gesundheitsmärkte.