TECHNOLOGIE & ZUKUNFT

Grüne Fabrikanten

Moose haben eine ganze Reihe von ungewöhnlichen Talenten. Womöglich lassen sie sich eines Tages sogar als Arzneimittel-Produzenten einsetzen.
Autor: 
Kerstin Viering
, Fotograf: 
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Grüne Fabrikanten

Moos hat im Frühjahr regelmäßig Konjunktur. Für die einen als Polstermaterial für Osternester, für die anderen als ewiges Ärgernis im Rasen. Ralf Reski von der Universität Freiburg aber sieht die unscheinbaren Pflanzen aus einer ganz anderen Perspektive. Für ihn sind sie Überlebenskünstler, deren Erfolgsgeschichte schon seit Jahrmillionen anhält. Im Laufe ihrer Evolution haben sie sich zu kleinen Chemiefabriken entwickelt, die von Natur aus eine erstaunliche Palette an unterschiedlichen Substanzen produzieren. Etliche davon könnten auch für den Menschen nützlich sein. Das Freiburger Team hofft sogar, dass sich Moose mit biotechnologischer Unterstützung als grüne Arzneimittel-Fabrikanten einspannen lassen. 

Wie vielfältig die Talente der urtümlichen Gewächse sind, zeigt sich unter anderem in ihrem Erbgut. So hat ein internationales Team um Ralf Reski vor ein paar Jahren das gesamte Genom des Kleinen Blasenmützenmooses Physcomitrella patens sequenziert. Obwohl sie nicht einmal Blüten, Holz oder Wurzeln besitzt, verfügt diese Pflanze demnach über rund 35.000 Gene. Das sind 10.000 mehr, als sich im menschlichen Erbgut finden. „Dieses Ergebnis kratzt natürlich ein bisschen an unserem Selbstverständnis als Krone der Schöpfung“, sagt Ralf Reski. „Da fragt man sich unwillkürlich, wofür so ein Moos all diese Erbinformationen braucht.“

Um das herauszufinden, schalten er und sein Team im Labor gezielt einzelne Gene aus und schauen dann, was die Pflanzen anschließend noch können und was nicht. Dabei zeigt sich, dass Moose einen guten Teil ihrer Gene für verschiedene Schutzmechanismen brauchen. „Sie produzieren viel mehr bioaktive Substanzen, als es Blütenpflanzen tun“, sagt Ralf Reski. Dazu gehören zum Beispiel Waffen gegen Feinde. Oder mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die als Gefrierschutz dienen und die Membranen weich und flexibel machen. 

Dank solcher biochemischen Hilfsmittel sind Moose extrem widerstandsfähige Pflanzen, die auch in extremen Lebensräumen zurechtkommen. Hitze, Kälte oder Trockenheit machen vielen von ihnen wenig aus. Selbst wenn sie für Jahrhunderte in den natürlichen Eisschränken der Erde eingefroren werden, können sie das überleben. So staunten selbst Fachleute nicht schlecht, als sie das Gebiet um den Teardrop Gletscher auf Ellesmere Island in der kanadischen Arktis unter die Lupe nahmen. Seit den 1960er Jahren hat der Klimawandel die Eiszungen dort zum Rückzug gezwungen. Dabei gibt der Gletscher immer wieder Moose frei, die vierhundert bis sechshundert Jahre lang darunter eingefroren waren. Zwar sieht man den Pflanzen den Stress ihrer eisigen Gefangenschaft durchaus an, viele von ihnen sind schwarz verfärbt. Oft aber fand das Team um Catherine La Farge von der University of Alberta in Edmonton auch Exemplare mit grünen Spitzen, die verdächtig lebendig wirkten. Und tatsächlich ließen sich Vertreter von vier Moosarten im Labor wieder zum Wachsen bringen.

Die erstaunliche Regenerationsfähigkeit der widerstandsfähigen Gewächse ist auch für Ralf Reski und sein Team ein Glücksfall. Denn sie ermöglicht es ihnen, Moose in speziellen Bioreaktoren heranzuziehen. Das sind Gefäße mit einem Fassungsvermögen zwischen fünf und 500 Litern, in denen die Pflanzen unter künstlicher Beleuchtung in einer Nährlösung wachsen. Zwar ist es nicht einfach, ihnen dort rundum perfekte Bedingungen zu bieten. Zumal verschiedene Arten auch unterschiedliche Ansprüche an die Temperatur, den pH-Wert und die Nährstoffversorgung stellen. Doch die Freiburger Fachleute haben in Sachen Moos-Vermehrung inzwischen so viel Erfahrung, dass ihre grünen Schützlinge im Labor üppig gedeihen. 

Das ermöglicht es dem Team, auch über praktische Anwendungen seiner Forschung nachzudenken. Die Schweizer Firma Mibelle Biochemistry, mit der die Gruppe zusammenarbeitet, verkauft bereits einen natürlichen Anti-Aging-Wirkstoff aus Moos, der in vielen Hautcremes verwendet wird. Und damit ist das Potenzial der grünen Multitalente nach Einschätzung von Ralf Reski noch längst nicht ausgeschöpft. „Wir haben ja erst einen kleinen Teil der Vielfalt der Moose und ihrer biochemischen Inhaltsstoffe erforscht“, sagt der Wissenschaftler. „Ich bin sicher, dass es noch viel mehr interessante Substanzen zu entdecken gibt.“

Doch er und seine Kollegen wollen sich nicht nur mit dem begnügen, was die Pflanzen von Natur aus im Angebot haben. Sie arbeiten auch daran, in Moosen menschliche Proteine zu gewinnen, die man später als Arzneimittel nutzen kann. „Dazu müssen wir das Erbgut der Pflanzen so verändern, dass sie nicht nur das Protein selbst produzieren“, erklärt der Forscher. „An bestimmten Stellen müssen sie auch noch Zuckerstrukturen anbauen, die denen im Menschen möglichst ähnlich sind.“ 

Die Firma Eleva, die Ralf Reski 1999 gegründet hat, beschäftigt sich intensiv mit solchen Herausforderungen. Und tatsächlich hat sie mit einem Enzym namens Alpha-Galactosidase A schon das erste menschliche Protein aus Moosproduktion erfolgreich durch die klinische Phase 1 gebracht. Eingesetzt werden könnte es zur Behandlung einer seltenen Stoffwechselerkrankung namens Morbus Fabry. Wer darunter leidet, kann das Enzym gar nicht oder nicht in ausreichenden Mengen herstellen, so dass die Entgiftungswege im Körper gestört sind. Behandeln lässt sich die Krankheit durch eine Enzym-Ersatztherapie, bei der den Patienten das fehlende Enzym regelmäßig gespritzt wird. 

Zwar gibt es durchaus schon entsprechende Medikamente auf dem Markt. „Die werden aber in tierischen Zellen hergestellt“, erklärt Ralf Reski. „Unsere Daten weisen darauf hin, dass Moose das vielleicht besser können.“ Einer der Vorteile der grünen Fabrikanten besteht darin, dass sie die gewünschten Substanzen in höherer Qualität und Reinheit produzieren. Und die gewonnenen Proteine sind auch leichter zu reinigen. Denn man kann die Moose mit einem genetischen Trick dazu bringen, das Produkt aus den Zellen in das Medium im Bioreaktor abzugeben.

Das alles klingt vielversprechend genug, um sich auch nach anderen Kandidaten für Medikamente aus Moosproduktion umzusehen. So beschäftigt sich die Freiburger Gruppe intensiv mit dem sogenannten Faktor H. Das ist ein sehr komplexes Protein aus dem Blutplasma, das die Regulation des angeborenen Immunsystems beeinflusst. In tierischen Zellen lässt es sich nur schwer herstellen, die Moose aber können das. Und das sieht Ralf Reski als große Chance. Denn ein Mangel an Faktor H führt zu übermäßigen Entzündungen und einem Risiko für Gewebeschäden. Doch auch für die Behandlung vieler anderer Krankheiten könnte dieses Protein interessant sein. Zum Beispiel, wenn es um die altersbedingte Makula-Degeneration geht, die zum Erblinden führen kann. Oder auch bei schweren Virusinfektionen. „Wir haben zum Beispiel die Hoffnung, dass Faktor H gegen Long Covid helfen könnte“, sagt Ralf Reski. „Deswegen wollen wir möglichst bald mit klinischen Studien der Phase 1 beginnen.“

Die Welt der Moose

Moose sind nach den Blütenpflanzen die zweitgrößte Pflanzengruppe der Erde. Weltweit gibt es schätzungsweise 16.000 bis 20.000 verschiedene Arten. Fachleute unterscheiden dabei drei unterschiedliche Gruppen: Hornmoose, Lebermoose und Laubmoose. 

Die Geschichte dieser Gewächse reicht sehr weit zurück in die Vergangenheit. Vor etwa 500 Millionen Jahren haben sich aus im Süßwasser lebenden Grünalgen die ersten Landpflanzen entwickelt. Das waren zwar noch keine Moose, sie hatten aber schon viel mit diesen gemeinsam. Da es damals noch keinen Boden gab, besaßen sie zum Beispiel keine Wurzeln, sondern versorgten sich direkt aus der Luft und aus den Felsen. Dieselbe Strategie verfolgen die Moose noch immer. Sie gehören zu den ursprünglichsten Pflanzen, die es heute noch gibt. 

Dank ihrer Widerstandsfähigkeit kommen diese Gewächse so gut wie überall auf der Erde vor. Und vielerorts spielen sie eine wichtige ökologische Rolle. So bilden viele Laubmoose mit ihren Stämmchen und Blättchen winzige Wälder, in denen ebenso winzige Bewohner wie Insekten und Bakterien leben. Zahlreiche Arten sind auch echte Pioniere, die selbst auf kahlen Felsen oder Beton wachsen können. Und ohne die Torfmoose aus der Gattung Sphagnum gäbe es keine Moore. Diese Pflanzen schaffen also ganze Ökosysteme.