TECHNOLOGIE & ZUKUNFT

Aufstieg nach Lianen Art

Kletterpflanzen liefern das Vorbild für eine neue Art von Robotern.
Autor: 
Kerstin Viering
, Fotograf: 
Advertorial
Sie lesen:  
Aufstieg nach Lianen Art

Lianen können tückisch sein. Nicht nur, weil sie oft regelrechte Labyrinthe bilden, die das Vorankommen in tropischen Regenwäldern ziemlich beschwerlich machen. Manche Arten sind auch mit gefährlich scharfen Haken ausgerüstet. „Die können einem böse die Haut aufreißen, wenn man daran hängenbleibt“, sagt Thomas Speck von der Universität Freiburg. Der Botaniker erinnert sich noch gut an die schweren Verletzungen am Ohr, die einer seiner Kollegen im Regenwald von Französisch Guayana davongetragen hat. Dabei sind die pflanzlichen Krallen gar nicht als Waffe gedacht, sondern als Hilfe beim Erklimmen von Baumstämmen.

Die Tricks, mit denen Lianen und Co. die verschiedensten Oberflächen hinaufklettern können, faszinieren Thomas Speck seit Jahren. Denn der Leiter der Forschungsgruppe für Pflanzen-Biomechanik hat eine Vision: Zusammen mit einem internationalen Team von Fachleuten für Botanik, Bionik und Robotik, für Mathematik, Informatik und Materialwissenschaften will er neuartige Roboter konstruieren, die sich wie Kletterpflanzen verhalten und fortbewegen. Im Rahmen des Projekts „Growbot“ hat die EU dieses Vorhaben seit 2019 mit rund sieben Millionen Euro finanziert.


Die Idee, sich beim Bau von Robotern an der Natur zu orientieren, ist an sich nicht neu. Allerdings haben sich die Konstrukteure bisher vor allem Tiere zum Vorbild genommen. Es gibt Maschinen, die so sensibel zugreifen wie Kraken-Arme, so energieeffizient springen wie Kängurus oder sich wie eine Kakerlake noch in die kleinsten Ritzen zwängen. Pflanzen haben bisher dagegen kaum einmal Modell für einen Roboter gestanden. Dabei sind sie keineswegs die unbeweglichen Couch-Potatoes, für die man sie auf den ersten Blick halten könnte. „Tatsächlich sind sie sogar sehr viel in Bewegung“, sagt Thomas Speck. „Das nehmen wir nur nicht so wahr, weil sie nicht in unserem Tempo unterwegs sind.“ So können fleischfressende Arten wie die Venusfliegenfalle in Sekundenbruchteilen zuschnappen, ohne dass unsere Augen ihnen folgen könnten. Kiefernzapfen dagegen brauchen Stunden, um sich bei trockener Luft zu öffnen und bei Feuchtigkeit wieder zu schließen. Und auch wachsende Pflanzen bewegen sich viel zu langsam für die menschliche Wahrnehmung. Dafür haben sie aber andere Qualitäten. Da sie kein Gehirn besitzen, werden ihre Bewegungen nicht zentral gesteuert. Wenn Wurzeln oder Blätter einen Reiz wahrnehmen, müssen sie vielmehr direkt darauf regieren. Das kann man zum Beispiel bei Erbsen oder Bohnen gut beobachten. „Wenn deren Ranken irgendwo einen Kontakt zu einem Zweig registrieren, beginnen sie sich in einer Spirale darum zu wickeln und zu verankern“, sagt Thomas Speck. „Danach winden sie sich auf und ziehen die Kletterpflanze zur Trägerstruktur hin.“ Dadurch können sie dann an jeder beliebigen Kletterhilfe nach oben wachsen. Und zwar Stück für Stück, ohne ihre Route vorher schon festgelegt zu haben. „Nach diesem Vorbild wollen wir Roboter entwickeln, die nicht ferngesteuert werden müssen“, erklärt der Freiburger Forscher. Eine der Pionierinnen auf diesem Gebiet ist die Koordinatorin von „Growbot“. Barbara Mazzolai vom Istituto Italiano di Tecnologia in Pontedera in der Toskana und ihr Team haben 2012 mit „Plantoid“ den weltweit ersten Pflanzenroboter vorgestellt, der sich wie eine wachsende Wurzel bewegt. Anfang 2019 legten sie mit einer künstlichen Ranke nach. Und dann haben sie sich zusammen mit Kollegen aus Italien, Deutschland, Frankreich, Israel und Spanien den Geheimnissen der Kletterpflanzen zugewandt. Im Fokus stehen dabei nicht nur tropische Lianen, sondern auch europäische Arten wie Efeu und wilder Wein. Das Leben all dieser Pflanzen folgt einer einheitlichen Strategie: Sie keimen am Boden und wollen nach oben, zum Licht. Also fangen sie an zu wachsen und strecken Suchertriebe aus, bis sie irgendwo auf eine Verankerungsmöglichkeit stoßen. Dort heften sie sich je nach Art mit verschiedenen Methoden an. Manche nutzen dazu nur ihre rauen Blätter, andere haben kleine Haftscheiben oder verlassen sich auf ihre Wurzeln. Und wieder andere winden Ranken, Äste oder sogar ihren ganzen Stamm um ihre Stütze. „Dabei müssen sie sehr flexibel auf die vor Ort vorhandenen Befestigungsmöglichkeiten reagieren“, erklärt Thomas Speck. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die Lianen und Co. selbst in einer so komplexen Umwelt wie einem tropischen Regenwald problemlos meistern.

„Heutige Kletterroboter sind mit solchen Herausforderungen dagegen oft überfordert“, sagt Thomas Speck. Sie können zum Beispiel zwar durchaus einen Baum erklimmen. Wie aber kommen sie dann zum nächsten, wenn dessen Äste ein paar Meter entfernt sind? Meistens gar nicht. Der „Growbot“ aber soll genau diese Art von Kunststücken beherrschen – und zwar ohne dass man ihm per Fernsteuerung den richtigen Weg zeigen muss. Er soll direkt vor Ort entscheiden, wie er sich als nächstes weiterbewegt.

Die Forscher haben auch schon recht konkrete Vorstellungen davon, wie das funktionieren könnte. Der Körper des Roboters wird aus einem kleinen 3D-Drucker bestehen, der mit Sensoren für optische Reize und Berührungen ausgerüstet ist. Wie eine Liane auf der Suche nach einem Kletterbaum wird er damit seine nähere Umgebung analysieren. Hat er eine geeignete Anheftungsstelle entdeckt, sprüht er aus einer Düse einen Faden dorthin. Wenn dieser trocknet oder von UV-Licht beschienen wird, windet er sich zu einer Spirale zusammen – und zieht dabei den Drucker zu sich heran. Von seinem neuen Standort kann er dann einen neuen Ankerpunkt anpeilen und ein weiteres Stück des Weges zurücklegen.


„Man muss ihm also über das Satellitennavigationssystem GPS nur das Ziel einprogrammieren, das er ansteuern soll“, erklärt Thomas Speck. „Dann wird er selbstständig seine Umgebung scannen und sich Stück für Stück den besten Weg dorthin suchen.“ Dabei soll „Growbot“ sogar ein paar Schritte vorausplanen und mehrere Optionen gegeneinander abwägen. So kann er sich dann zum Beispiel für jene Route entscheiden, bei der er am wenigsten Material für seine Haftfäden braucht. Dabei soll er aber auch nicht unbedingt den nächstgelegenen Punkt ansteuern, wenn er von da vielleicht schlecht weiterkommt. „Es gibt schon tolle Algorithmen, mit denen man den besten Weg finden kann“, sagt Thomas Speck. Auch für die spiralig zusammenschnurrenden Kunstranken, mit denen sich der Pflanzenroboter vorwärts hangeln soll, hat das Projektteam schon vielversprechende Lösungen entwickelt. Dazu haben die Freiburger Botaniker zunächst genau untersucht, wie zwei verschiedene Arten von Passionsblumen ihre Ranken in Form bringen. Der Trick besteht im Wesentlichen darin, dass sich beim Wachstum eine Seite der Ranke verkürzt. So werden ihre beiden Seiten unterschiedlich lang, und die dadurch entstehende Spannung führt dazu, dass sich die Ranke mit der Zeit wie eine Sprungfeder zusammenwickelt.


Auf der Basis dieser Erkenntnisse hat eine Forschungsgruppe um Andreas Lendlein vom Institut für Aktive Polymere des Helmholtz-Zentrums Hereon in Teltow bei Berlin Materialien entwickelt, die so etwas auch können. Im Inneren der technischen Ranken liegt dabei ein zäher Kern aus einem Kunststoff, der eine Art „Gedächtnis“ für frühere Formen besitzt: Erwärmt man ihn, nimmt er wieder seine ursprüngliche Gestalt an. Dieser Kern liegt etwas zur Seite verschoben in einer elastischen Hülle aus Silikon. Durch diese Anordnung der verschiedenen Materialien entstehen Spannungsverhältnisse, die zu den gewünschten Bewegungen führen. So rollt sich eine Variante der Kunst-Ranken bei Wärme auf, eine andere nimmt dann wieder ihre gestreckte Gestalt an. Und bei einer dritten verändern sich mit wechselnden Temperaturen die Gesamtlänge der Spirale sowie die Zahl und der Durchmesser ihrer Windungen. Das führt zu Bewegungen, die denen einer echten Pflanzenranke stark ähneln. Und wenn man die Temperatur ändert, können diese hintereinanderweg immer wieder ausgeführt werden.


Damit sich ein „Growbot“ mithilfe eines solchen Antriebs bewegen kann, muss er relativ klein und leicht sein. Sonst können die Fäden den Drucker nicht zu sich heranziehen. Für den Anfang denken die Forscher an die Größe eines Schuhkartons und ein Gewicht von vielleicht 700 Gramm, später sollen dann kleinere Versionen möglich sein, die nur 100 bis 300 Gramm wiegen und die Dimensionen einer Zigarettenschachtel erreichen. Aussehen soll der Pflanzenroboter allerdings eher wie ein länglicher Zylinder, damit er sich auch gut durch Gänge und anspruchsvolle Labyrinthe bewegen kann.

Denn gedacht ist der Kletterkünstler für sehr spezielle Anwendungen. Archäologen können ihn zum Beispiel vor einer Ausgrabung in die unterirdischen Hohlräume längst verfallener Städte schicken, damit er mit seinen Kameras dort Bilder macht. Oder er kann nach Naturkatas-trophen zu Verschütteten vordringen, um dort die Lage zu erkunden. Und da man ihn mit den verschiedensten Messgeräten ausrüsten kann, ist er auch für die Raumfahrt interessant. Werden also eines Tages künstliche Lianen ins All starten? Noch klingt das alles ein bisschen nach Science Fiction. Doch Thomas Speck ist optimistisch, dass der erste Prototyp von „Growbot“ schon in ein paar Jahren auf Klettertour gehen kann.

Botanische Vorbilder: Kletterpflanzen

Lianen, die mithilfe verschiedener Befestigungsmethoden an allen möglichen Flächen hinaufklettern können, gibt es nicht nur im tropischen Regenwald. Auch eine ganze Reihe von einheimischen Gewächsen pflegt diesen Lebensstil, der es ihnen ermöglicht, vom schattigen Waldboden zum Licht hinaufzuwachsen, ohne einen stabilen Stamm bilden zu müssen.


EFEU

Der Efeu (Hedera helix) nimmt den Kontakt zu einer Oberfläche über seine Wurzelspitzen oder Wurzelhaare auf. Er schmiegt sich an das Substrat an und bildet weitere Wurzelhaare, die Wurzel wird dicker und beginnt zu verholzen. Zusätzlich scheidet er einen selbstgemachten Klebstoff aus. Mithilfe all dieser Tricks kann er sich an Baumrinde fast ebenso gut befestigen wie an Felsen oder Hauswänden.


Wilder Wein

Eine Ranke des Wilden Weins (Parthenocissus tricuspidata) ist mit sieben bis neun Haftpads ausgerüstet, die zunächst wie ein Köpfchen aussehen, dann zu Haftscheiben abflachen, die  einen Durchmesser von etwa drei Millimetern haben. Da die Zellen an ihrer Unterseite in die Vertiefungen einer Hauswand oder eines Baumstamms hineinwachsen und die Pflanze zudem einen starken Kleber absondert, kann sich auch diese Kletterpflanze extrem fest anheften. Ein einziges ihrer Pads kann ein Gewicht von bis zu 600 Gramm tragen. Wenn man die Ranken mit Gewalt von einer Hauswand abreißt, kommt deshalb der Putz oft gleich mit herunter.


Brombeere

Die Brombeere gehört dagegen zu den sogenannten Spreizklimmern, die keine speziellen Ranken oder Haftorgane besitzen. Trotzdem können sie mit Hilfe ihrer Dornen an anderen Pflanzen oder Rankgerüsten emporklettern. Dazu lehnen sie ihre sperrigen Triebe an die Kletterhilfe an und befestigen sich mithilfe von Quertrieben, bis ein dorniges und kaum entwirrbares Geflecht entsteht.