GENUSS

Alles andere als still

Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla aus Litauen war die Chefdirigentin des „City of Birmingham Symphony Orchestra“ und ist noch mit diesem auf Europa-Tournee. Ende März war sie in München und nun kommt sie noch einmal in die Münchner Philharmonie. Gelegenheit, sie genauer vorzustellen.
Autor: 
Sonja Still
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Alles andere als still

Lange bevor Cate Blanchett im Kinodrama „Tar“ die Zuschauer begeisterte, begeisterte Mirga Gražinytė-Tyla im wirklichen Leben mit ihrer Kunst. Wer ihr begegnet, kann bei aller Schönheit und der großen Schauspielkunst von Cate Blanchett kaum noch die Filmschmonzette würdigen. Da wird eine Hollywood-Welt ergaukelt, die weder die Größe der Musik, die Arbeit eines Dirigenten und schon gar nicht die Auftritte und das Leben einer großartigen Dirigentin würdigt.


Mirga Gražinytė-Tyla können Klassikfans in dieser Spielzeit in Benjamin Brittens „War Requiem“ bei den Salzburger Festspielen und in einer Neuproduktion von Janaceks „Das schlaue Füchslein“ an der Bayerischen Staatsoper München erleben. Sie gastiert bei den Münchner Philharmonikern, beim Orchestre Philharmonique de Radio France, bei der Accademia di Santa Cecilia Roma und beim Concertgebouw Orchestra. Und man sollte zusehen, sie zu sehen.

Wer ihr begegnet, auch wenn es nur kurz ist, sieht eine junge Frau, die natürlich Musik lebt, aber eben nicht nur. Sie ist auch im richtigen Leben verwurzelt. Als in der Pause die Tür zur Backstage aufgeht, sieht man sie, wie sie mit ihrem Kind auf dem Arm in einen ruhigen Raum verschwindet.


Mirga Gražinytė-Tyla – das ist ein aufs erste schwer zu merkender Doppelname. Der erste ist ihr Mädchenname, der nach dem Bindestrich ein Künstlername. Ihn hat sie sich fast als Programm dazuerfunden. Tyla bedeutet im Litauischen Stille, auch Ruhe oder Schweigen. Was soll sie auch sagen, wenn doch ihre Musik für sich sprechen soll? Noch dazu, wenn weltweit die Medien sie interpretieren nach eigener Sicht der Dinge? Gibt es denn eine absolute Wahrheit, wie Musik richtig aufgeführt werden kann? Schweigen – Ruhe – Stille: Alle diese Zustände dienen ihrer Musik jedenfalls besser als die vielen Worte.

Wer sie in der Münchner Philharmonie an dem Abend sieht, sieht eine unglaublich präzise arbeitende Dirigentin. Es steht Edward Elgars op. 61, das h-Moll-Konzert für Violine und Orchester, auf dem Programm. Es wurde bislang wenig aufgeführt. Warum, kann man spekulieren. Elgars Werk gehört auf jeden Fall zu den großen Konzertpartituren des frühen 20. Jahrhunderts und es sind die Jungen, die heute selbstverständlicher auf solche Herausforderungen setzen. Nicht, dass sich jetzt die über 50-Jährigen auf den Schlips getreten fühlen, unter ihnen gibt es auch außergewöhnliche Musiker – ohne Zweifel. Aber es ist eben eine Mirga Gražinytė-Tyla mit einer Vilde Frang, die sich solcher Aufgabe aussetzen. Und das ist in der Münchner Philharmonie an dem Abend eine großartige Hörerfahrung.

Man muss es schildern, um nicht in der Plattitüde hängen zu bleiben: Der erste Satz des Konzerts ist zunächst von einer langen, harmonisch farbenreichen orchestralen Passage gekennzeichnet. Sechs Themen bestimmen den Satz, deren zweites, mit ,,Windflowers“, also ,,Windblumen“, überschrieben, von außergewöhnlicher Poesie erfüllt ist. Und, man muss seitlich sitzen, um ein wenig die Mimik der Dirigentin zu erahnen, wenn sie arbeitet. Wer nur von hinten schauen kann, darf die gerade Haltung, den angespannten Arm zum Einsatz beobachten. Doch von der Seite kann der Blick, das freundliche Lächeln, die krause Stirn, das fast liebevolle Locken, das raffinierte Schmeicheln wahrnehmen, die sich in ihrem Habitus, Gestus und der Mimik zeigen. Der Dirigentenstab tanzt leicht und exakt in Mirga Gražinytė-Tylas Hand, vergleichbar einer Primadonna im Ballett.

Wer noch Bilder von alten Herren am Pult aus dem Gedächtnis abrufen kann: Es zeigt sich hier das größtmögliche Gegenteil von enthusiasmierten Köpfen, die mit Schweißperlen auf der Stirn Einsätze so vehement geben, bis sich ihre Anzugjacken sprengen. Wenn dann Vilde Frang ihren Part mit der Solovioline übernimmt, scheint aus der einen und der anderen jungen Frau ein korrespondierendes Team, ein spielendes Ganzes zu werden. Die beiden Musikerinnen liefern Leidenschaft und Intensität ohne klassische Kontenance und Größe zu verbergen. Das britische Orchester folgt, erhöht das Werk zum Weltenklang. Elgars Opus wird ausdrucksstark, episodenreich, emotional, aber nie „zu“, zu stark, zu viel, zu gefühlig.

Nach der Pause folgte Sergei Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballettmusik. Und wieder ist es eine Klangwelt, die grandios und raffiniert, mit smarter Wucht erscheint. Der Dank in München dafür: brausender Applaus und Standing Ovations. Und im Sommer noch einmal!


Mirga Gražinytė-Tyla wurde 1986 in Vilnius, der Hauptstadt von Litauen, geboren. Litauen nannte sich damals noch Litauische Sozialistische Sowjetrepublik und war Teil der UdSSR, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Mirgas Begabung wurde durch Musikunterricht bereits in ihrer Kindheit gefördert und weiterentwickelt. Mirga Gražinytė-Tyla wurde in eine Musikerfamilie geboren, ihr Vater war Chorleiter, ihre Mutter Pianistin. Beide Eltern unterstützten und förderten ihre Tochter. Schon früh stand sie als Kleine auf der Bühne bei Gesangswettbewerben. Es war da schon sichtbar, dass es ihr Freude macht, ganz vorne zu stehen.

Den Weg zum Musikprofi begann Mirga in ihrer Heimatstadt Vilnius. Sie studierte Chorleitung und Bildende Kunst an der renommierten Nationalen Mikalojus-Konstantinas-Čiurlionis-Kunstschule. Mit 16 Jahren dirigierte sie ihr erstes Chorkonzert. Danach ging es für die junge Frau nach Österreich. Sie studierte in Graz, an der Universität für Musik und darstellende Kunst. Es folgten Aufenthalte am Konservatorium in Bologna, an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig und an der Zürcher Hochschule der Künste. Mit nur 23 Jahren wurde sie vom Deutschen Dirigentenforum aufgenommen. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit 25 Jahren, als sie den begehrten Salzburg Young Conductors Award gewann und dann mit dem Gustav Mahler Jugendorchester ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen gab. Es folgte eine Assistenzzeit beim Los Angeles Philharmonic Orchestra unter Gustavo Dudamel. 2016, im Alter von nur 29 Jahren, wurde Mirga Gražinytė-Tyla Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra. Damals raunte sich die Erregung darüber durch die Klassikszene. Inzwischen ist sie so gefragt, dass sie ihr Amt als Chefdirigentin bei dem englischen Philharmonie-Orchester zurückgab, aber noch mit ihm als erste Gastdirigentin arbeitet. Mit Mirga Gražinytė-Tylas Berufung wurde erstmals eine Frau an die Spitze dieses Orchesters gestellt. Sie trat in der Nachfolge von Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Sakari Oramo und Andris Nelsons als Musikdirektorin des City of Birmingham Symphony Orchestra an. Für ihre Arbeit erhielt sie 2019 den „Royal Philharmonic Society Conductor Award“. In der Begründung der Jury hieß es: ,,Mirga Gražinytė-Tyla bringt ihre eigene Vision ein, während sie eine respektvolle, für beide Seiten fruchtbare Partnerschaft mit den Musikern formt, sich mutig und energisch in ein umfangreiches und unverwechselbares Repertoire stürzt und die Identität der Stadt auch außerhalb des Konzertsaals prägt.“


Innovative Programmgestaltung und intensive, aufschlussreiche Aufführungen wurden zum Markenzeichen ihrer Arbeit, schreiben die Kritiker. Ihr Repertoire reicht von Haydn und Mozart über Debussy, Mahler und Schostakowitsch bis zu neuen Werken von beispielsweise Hans Abrahamsen, Jörg Widman und Raminta Šerkšnytė. Trotz der Einschränkungen durch die Pandemie machte sie mit ihrer Arbeit von sich reden. Im Sommer 2021 gab sie mit dem City of Birmingham Orchestra ein triumphales viertes Gastspiel bei den BBC Proms. Auf dem Programm stand unter anderem die Londoner Erstaufführung von Thomas Adès’ The Exterminating Angel Symphony, eines von mehreren Werken, die das CBSO anlässlich seines Jubiläums in Auftrag gegeben hatte. Sie ist die erste Dirigentin, die einen langfristigen Vertrag bei der Deutschen Grammophon bekommen hat.


Mirga ist inzwischen Mutter und reist mit ihrem Mann auf den Tourneen. Bei den Proben kann es schon sein, dass sie ihr Kind mitbringt. Babygeräusche in einer Probe zu hören, so sagte sie einmal, macht friedlich. „Es bringt mich zu dem Gedanken, dass wir immer Babys in der Probe haben sollten. Es hilft definitiv der Zukunft und unserer Menschlichkeit.“

Isarphilharmonie

Der  Konzertsaal an den Isarauen, nahe des Flauchers, ist eigentlich ein Provisorium. Der Bau war als Zwischenbau gedacht, als Ausweichquartier für die Münchner Philharmoniker. Für den Bau steht das Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner (gmp). Die Architekten sorgten für einen fließenden Übergang von der denkmalgeschützten Halle E in den Neubau. Große Treppen verbinden die ehemalige Trafohalle mit dem Konzertsaal und schaffen so eine räumliche Einheit beider Gebäude. Sie haben den Saal in Holzmodulbauweise gewählt, denn er sollte ja nur temporär genutzt werden. Dass diese „Übergangszeit“ inzwischen relativ lange dauern dürfte, zeichnete sich schon vor der Eröffnung ab. Der Gasteig soll saniert werden – seit gut 20 Jahren und jedes Jahr wird es weniger wahrscheinlich, zeitnah zu einer guten Lösung zu kommen. Vielleicht hätte man misstrauisch werden sollen, dass der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota eingeladen war, das Ausweichquartier zu  gestaltent. Ein Provisorium und der Meister der Akustik? Der berühmteste Akustiker der Welt hat viele Konzerthäuser gestaltet,  das Konzerthaus Kopenhagen, die Konzerthalle im Mariinskij-Theater in St. Petersburg. Die Elbphilharmonie in Hamburg. Die Isarphilharmonie habe eine einzigartige Raumform, komplett anders als der Gasteig, sagte er zu Eröffnung. Deswegen muss die Akustik genauso einzigartig sein. Das ist sie.

Wer drin war, hört unerhört: neu, anders, klarer, intensiver, ungestörter. Der Klang sei warm, transparent, direkt, erklären die Fachleute. „Der Klang ist warm, klar und intim“, schwärmte der damalige Chef der Münchner Philharmoniker. „Der Saal ist sehr freundlich zu den Musikern – mit weniger Kraftanstrengung erreichen sie exzellente Klangerlebnisse.“ Für bis zu 1.900 Besucher bietet der Konzertsaal Platz. Im Ambiente alles dunkel gehalten, gibt es nur auf der Bühne helles Holz. Es gibt natürlich nicht nur große Klassik in der Isarphilharmonie. Das Münchner Filmfest wurde hier eröffnet. Es wird als Kinosaal oder als Tanzsaal genutzt. Ein Saal mit eigenem Leben ist es geworden. Innerhalb von nur drei Jahren entstand die Isarphilharmonie. Eineinhalb Jahre wurde geplant, eineinhalb Jahre gebaut. Die Baukosten für den Saal betrugen 40 Millionen Euro und blieben im Budget. Im Herbst 2021 fand die Eröffnung des HP8 statt – benannt nach der Adresse Hans-Preißinger-Straße 8. Schlicht und ergreifend. Wenn nicht alles so sein könnte. Zumindest fragt man sich, warum München nicht einfach am Gasteig auch ein Ausweichquartier plant. Zwischenlösungen können sie doch echt gut.

www.gasteig.de